PIANONews
Alle Ausgaben
PIANONews
Ausgaben 2024
PIANONews 6 / 2024
Saskia Giorgini
Natürlichkeit, Spiritualität und Selbstbestimmung
Von: Isabel Herzfeld
Wir sind noch ganz im Bann der „Harmonies poétiques und religieuses“ von Franz Liszt, die sie soeben gespielt hat, aber nun sitzt mir Saskia Giorgini im Künstlerzimmer des Husumer Schlosses frisch und ausgeruht gegenüber, als hätte sie einen erholsamen Spaziergang gemacht. Endlich kann sie einen Kaffee trinken – „ich liebe Kaffee, aber heute Morgen vor dem Konzert hätte er mir einfach zu viel Adrenalin gebracht. Eigentlich ist er ja gut für die Konzentration“. An Konzentration mangelte es jedenfalls nicht während dieser Matinee, in der die italienisch-niederländische Pianistin den vollständigen, etwa 90 Minuten dauernden Zyklus aufgeführt hat. Der ist live so gut wie nie zu hören, eigentlich erklingen nur das meditative „Bénédiction de Dieu dans la solitude“ und die dramatischen „Funerailles“ im Konzert, und das auch nicht mehr allzu oft. Die ekstatisch einleitende „Invocation“, das schlichte „Ave Maria“, das noch schlichtere „Pater Noster“, die düstere, bedrohlich gesteigerte „Pensée des morts“, das alles grenzt schon an Esoterik, erschließt sich dem säkularen, religiös ungebildeten Menschen kaum noch in seiner spirituellen Dimension.
Wir sprachen mit Saskia Giorgini …
Der Liszt-Zyklus
„Ich konnte damit zuerst auch überhaupt nichts anfangen“, gesteht Giorgini. Die Pianistin, eine lebensfrohe, unverkennbar italienische Schönheit, wirkt in ihrer Natürlichkeit absolut bodenständig und kein bisschen jenseitig. „Ich bin zwar katholisch aufgewachsen, aber hatte mich von den Gebeten und Ritualen meiner Kindheit doch ziemlich weit entfernt. Dann kam Covid, und der Gedanke, etwas aufzunehmen, lag nahe. Ich schlug Liszt vor, mein neues Label Pentatone die ‚Harmonies‘. Als ich dann zu Hause die Noten ansah, wurde mir klar, dass ich diese religiösen Stücke überhaupt nicht kannte. ‚Ave Maria‘, was sollte das sein? Ich konnte doch keine Kirchenmusik spielen! Dann sah ich ‚Bénédiction de Dieu‘, das erschien mir sehr schwer, und der Rest kam dann irgendwie. In dieser Zeit wurde auch mein Vater sehr krank, den wir nicht besuchen durften. Ich war in Wien, mein Bruder in München, mein Vater in Italien. Wir konnten nur tägliche Video-Telefonate führen und sehen, wie es ihm immer schlechter ging. Plötzlich begriff ich den Sinn hinter den traditionellen Gebeten und dass sie auch in diesem traditionellen Zyklus enthalten sind. Das war eine völlig neue spirituelle Erfahrung, das hat mir damals so gutgetan.“
Die Auseinandersetzung mit dem gesamten Zyklus brachte Giorgini auch zu einer Neubewertung der bekannteren Nummern. „Man darf den großen Bogen nie aus den Augen verlieren“, erklärt sie, „man muss die einzelnen Stücke im Gesamtzusammenhang verstehen.“ So entschied sie sich, Steigerungen und Höhepunkte vorsichtig einzusetzen. „Mir ist schon öfter gesagt worden, ich sollte die Steigerungen in ‚Bénédiction‘ kräftiger spielen, und auch ‚Funerailles‘ müsste dramatischer sein. Aber das sind nur einzelne Stationen, entspannte Dankbarkeit das eine und menschlicher Schmerz das andere. Das Zentrum des gesamten Zyklus ist ‚Pensée‘, das Stück, das Liszt als Erstes schrieb und das er dann in gekürzter und nicht mehr ganz so experimentierfreudiger Fassung einfügte. Von da aus muss man alle anderen Stücke bewerten.“
Das Totengedenken „Pensée“ stellt in seinen düsteren Oktavrepetitionen und sanften Diskantklängen einen Vorgriff auf die „Dante“-Sonate mit ihren Stationen „Inferno“, „Purgatorio“ und „Paradiso“ dar. Vorstellungen, die Saskia Giorgini mehr als geläufig sind: „In der Schule studieren wir die ‚Divina Commedia‘ mehrere Jahre lang. Wenn wir in der Mittelschule mit Inferno, Purgatorio und Paradiso durch sind, fängt es von vorne an, dann geht es etwas tiefer in die Poetik hinein. Für mich ergeben sich daraus so interessante Verbindungen, Gedanken, die ich mir während des Übens gemacht habe, was ich selbst erlebt habe, was ich über Liszt gelesen habe.“ Schuld und Schmerz, das sind die Inhalte, mit denen sich die Pianistin auseinandersetzte, Gedenken an Menschen, die nicht mehr da sind, Todesangst. „Der Schrecken, den Liszt in Musik setzt, ist so gewalttätig. Ich kenne keine andere Musik vor dem 20. Jahrhundert, die so gewaltsam ist, auch die bösen, hässlichen Seiten des Lebens beschreibt. Aber dann kommt plötzlich das Licht von oben her, Gnade, Barmherzigkeit, auch eine allumfassende Liebe.“
Mit „Cantique d’amour“ endet der Zyklus, so berührend, findet Giorgini, weil „cantico“ im Italienischen ein religiöser Begriff ist. „Cantico die cantici“ bezeichnet das „Hohelied Salomos“, das alle Facetten der Liebe preist, mithin auch Versöhnung ermöglicht.
Werdegang mit biblischen Geschichten
All das erzählt keine religiöse Fanatikerin, keine verkniffene Klosterschwester, sondern eine warmherzige, temperamentvolle Frau, für die all diese Stationen zwischen Leben und Tod auch ein bunter Bilderbogen, eine große Abenteuergeschichte sind. „Ich bin in der Nähe von Turin in einem kleinen Ort auf dem Land aufgewachsen“, führt sie aus. „Dort war das alles real. Auch meine holländische Großmutter war streng katholisch – das war ja die Voraussetzung dafür, dass mein italienischer Vater meine holländische Mutter überhaupt heiraten konnte. Dass die im Urlaub einen Italiener mit schwarzen Locken kennengelernt hatte, war erstmal natürlich eine Katastrophe.“ Sie lacht ihr herzhaftes, ansteckendes Lachen.
Das gesamte Gespräch lesen Sie in der Ausgabe 6-2024 von PIANONews.
PIANONews 5 / 2024
Marie-Ange Nguci
Fragen zur Rolle von Musikern im Heute
von Carsten Dürer
Sie ist erst 26 Jahre alt, in Albanien geboren, ein Jahr, nachdem der Bürgerkrieg das Land zu verunsichern begann. Doch schon früh erkannte Marie-Ange Nguci (den ersten Teil ihres vollständigen Nachnamens, Sopiqoti, lässt sie momentan wegen der einfacheren Aussprache weg) ihre Liebe zur Musik und zum Klavier. Wir treffen die junge Pianistin vor ihrem diesjährigen Konzert beim Klavierfestival Ruhr in der Zeche Zollern in Dortmund und treffen auf eine hochintelligente und offene Künstlerin, die sich bereits viele Gedanken gemacht hat über ihre Rolle als Künstlerin, über Musik im Allgemeinen und über die Welt, in der sie lebt.
Die ehemalige Maschinenhalle der Zeche Zollern ist bestuhlt, auf der Bühne steht ein Konzertflügel, die fast zierlich wirkende Marie-Ange Nguci sitzt und übt für das Abendprogramm, auf dem ein Gang mit russischen Klavierwerken erklingt: Alexander Skrjabins 5. Sonate, Sergei Rachmaninows „Variationen über ein Thema von Chopin“, Sergei Prokofiews Sonate Nr. 6 und Nikolai Kapustins Konzertetüde Op. 40 Nr. 8. Ein forderndes und emotional aufgeladenes Programm. Wir setzen uns mit der jungen Pianistin zusammen und beginnen das Gespräch mit Blick auf ihre Heimat Albanien. 1998 ist Marie-Ange Nguci mitten hinein in die Auswirkungen des 1997 begonnenen und als „Lotterieaufstand“ in die Geschichte eingegangenen Bürgerkriegs, der das Land in eine wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Krise stürzte, geboren worden. Doch sie hatte das Glück, in eine Familie mit gehobener Ausbildung geboren zu sein. „Mein Vater war Journalist, und ansonsten kommen alle in meiner Familie aus dem Bereich der Wirtschaft, haben Wirtschaft studiert und arbeiteten in diesem Feld oder unterrichteten es. Während dieser Jahre der Revolution und des folgenden Bürgerkriegs gab es natürlich sehr viel Verunsicherung. Das Wichtigste war, den Tag zu überleben, denn man konnte einfach so auf der Straße erschossen werden. Kunst und Kultur war in dieser Situation eine Möglichkeit, sich von der Welt abzuschotten, etwas zu kreieren, zu dem man aufschauen konnte. Und wenn man schon nicht außerhalb des Hauses etwas fand, zu dem man aufschauen konnte, an das man glauben konnte, dann waren da Geschichte, Kunst … Dinge, die deine eigene Fähigkeit benötigten, dich zu bereichern. Und das war natürlich auch die Musik.“
Glücklicher Beginn
Zu Hause gab es ein Klavier, doch Nguci erinnert sich gar nicht daran, wie es in das Haus kam, es war immer schon da. „Ich hatte selbst keine Ambitionen, einen künstlerischen Weg einzuschlagen, auch meine Eltern waren nicht daran schuld. Vielmehr dachte man, dass ich der Familientradition folgen würde und Wirtschaftswissenschaftler werde. Aber das Klavierspiel wurde unglaublich wichtig für mich. Ich begann schon sehr früh und dann gab es diese unglaubliche Geschichte in meinem Leben. Denn in den chaotischen Umständen, in denen wir uns befanden, gab es keine wirkliche Möglichkeit einer schulisch-musikalischen Ausbildung. Ich spielte also – wie ein Kind ohne richtige Erziehung – auf unserem Klavier, als unsere Nachbarin bei uns vorbeischaute. Sie war früher eine Klavierlehrerin in Ungarn, die in Wien und Moskau studiert hatte. Sie hörte mich also und fragte meine Eltern, ob ich wohl daran interessiert sei, Musikunterricht von ihr zu bekommen. So startete es.“
So begann alles für Marie-Ange Nguci. Doch sie hatte mehr Glück als „nur“ Klavierunterricht zu erhalten. „Diese Dame, die mittlerweile recht jung von uns gegangen ist, hat mir die musikalische Welt eröffnet. Sie begann also direkt, mir den Kontakt zu aller Art von Musik zu eröffnen, nicht nur Klaviermusik, sondern auch orchestrale und Kammermusik. Sie zeigte mir, dass das, was auf dem Papier geschrieben ist, vollkommen unterschiedliche Bedeutung haben und so unterschiedliche Klangfarben bereithalten kann, je nachdem wie man auf die jeweilige Note schaut und in welchem Zusammenhang sie erscheint. Und schon bald – ich war noch sehr jung – begann ich Klavier-Reduktionen von Streichquartetten und anderen Werken zu spielen. Sie zeigte mir, dass das Klavier nicht nur ein technisches Instrument mit einer Tastatur ist, sondern ein musikalisches Instrument. So bin ich ihr unglaublich dankbar, denn zu dieser Zeit war es in Albanien so schwierig überhaupt Musik zu hören.“
Konzerte waren selten zu dieser Zeit in Albanien, aber auch der Zugang zu CDs oder Vinyl-Schallplatten war nicht selbstverständlich. „Zudem gab es immer noch Musik, die unter Zensur stand, so dass wir einen nur sehr limitierten Zugang zur Musik von außerhalb des Landes hatten. Wir hatten zwar Zugang zu bekanntem Repertoire, aber dieses war sehr limitiert. Wir selbst hatten einige Schallplatten, meine Klavierlehrerin aber hatte eine schöne Sammlung, die sie aus Ungarn mitgebracht hatte, so dass sie für mich nicht nur menschlich, sondern auch in diesem Bezug eine unglaublich reiche Ressourcen-Quelle darstellte.“ Zuerst aber dachte die Lehrerin, dass Marie-Ange Nguci zu kleine Hände für das Klavier hätte und meinte, sie solle vielleicht eher ein Streichinstrument spielen. So begann Nguci mit dem Cellospiel, musste sich aber ein Instrument dafür über viele Wege überhaupt erst organisieren. „Ich liebe das Cello bis heute und besitze mein Cello, dass ich später kaufte auch immer noch und spiele es sogar ab und zu. Dieses Instrument gibt einem einen so körperlichen Kontakt mit dem Klang, was wir am Klavier nicht haben. Das war wichtig für mich und wohl auch für meine Lehrerin: Zu lernen, dass es diesen Klang gibt, der dann auf dem Klavier in etwas Vergleichbares verwandelt werden kann.“ Bis heute weiß sie nicht, ob es wirklich der Grund war, dass ihre Hände recht klein waren, oder ob es ein Trick der Lehrerin war, ihr das Gefühl und den Kontakt zu einer grundlegenden Klangerfahrung zu geben, meint sie.
Frankreich und weitere Wege
Wann genau ging sie dann nach Frankreich, um dort eine bessere und anders geartete Ausbildung zu erhalten? „Ich war 12 Jahre alt.“ Doch man hatte die kleine Marie-Ange nicht alle ins Ausland geschickt, richtig? „Nein, ich ging mit meiner Mutter nach Frankreich. Es war ohnehin schwierig, in dieser Zeit überhaupt ein Visum für einen längeren Auslandsaufenthalt zu erhalten. So ging sie immer wieder zurück und kam dann wieder zu mir. Ich bin meiner Familie ohnehin unglaublich dankbar, dass sie bis heute verstehen, was mich antreibt, was ich tue, meine Leidenschaft für Musik versteht. Es ist ein großes Opfer meiner Familie, denn andere Eltern wären vielleicht nicht so klar mit dieser Unterstützung gewesen. Sie verstanden sofort, dass es für mich ein Opfer ist, Disziplin bedeutet, aber auch eine Mission, denn man transportiert ja etwas mit der Musik. Bis heute sind meine Eltern große Unterstützer.“ Die Eltern leben immer noch in Marie-Ange Ngucis Heimatstadt Feir, doch sie besucht sie, so oft es nur geht.
Das gesamte Gespräch mit Mari-Ange Nguci lesen Sie in der Ausgabe 5-2024 von PIANONews www.pianonews.de
PIANONews 4 / 2024
Elisabeth Leonskaja
Nicht sich in der Musik suchen, sondern die Musik in sich
Von: Isabel Herzfeld
Begabte Pianistinnen und Pianisten sind Legion; viele schaffen auch den Sprung nach oben und verschwinden dann wieder. Sich jahrzehntelang unter den Top-Ten zu halten steht noch einmal auf einem ganz anderen Blatt. Mit der natürlichen Souveränität und unverminderten Frische ihrer Interpretationen hat Elisabeth Leonskaja es erreicht, auf unspektakuläre Weise dazuzugehören – es ist wohl auch ihr unaufdringlicher, humorvoller Charme und ihre Integrität, die ihr den Titel „Grande Dame des Klaviers“ eingebracht haben. Sie selbst hört dieses Etikett nicht so gerne. Dafür ist sie viel zu unprätentiös, „nahbar“, wie man heute gerne sagt, und auch zu spontan und lebendig. Bemerkenswert ist ihre Großzügigkeit, mit der sie etwa vor Jahren ihr Honorar für Studenten eines Meisterkurses spendete oder einmal mit einer Freundin Geld zur Unterstützung einer Musikschule in ihrer Geburtsstadt Tiflis sammelte. Doch erstreckt sich diese hochherzige Eigenschaft beileibe nicht nur auf Finanzielles. Aus ihr speist sich auch Leonskajas Kollegialität, die Aufrichtigkeit ihrer Person und ihrer Kunst, die Gelassenheit und gleichzeitig Offenheit, mit der sie neue Entwicklungen auf sich zukommen lässt. Auch ihre zuverlässige Verbundenheit mit Künstlern und Klangkörpern hat damit zu tun. Der Zusammenarbeit mit ihnen gibt sie Priorität, nicht irgendwelchen kurzlebigen Karriereerwägungen.
So sagte sie sofort zu, als das Konzerthaus Berlin mit seinem Intendanten Sebastian Nordmann für eine umfangreiche Hommage bei ihr anfragte. Dem heutigen Konzerthausorchester ist die Künstlerin bereits seit DDR-Zeiten verbunden, als es noch „Berliner Sinfonieorchester“ hieß und der große Kurt Sanderling Chefdirigent war. Dessen Ära reichte von 1960 bis 1977, mehrfach war Leonskaja mit dem Ensemble auf Tournee. Auch später war sie immer wieder als Solistin und Kammermusikerin zu erleben, zuletzt mit einem umjubelten Recital anlässlich einer Schostakowitsch-Ehrung 2022. Die elftägige Hommage im Frühjahr 2024 umfasste denn auch gleich drei Sinfoniekonzerte, bei denen Leonskaja drei Auftritte mit dem Grieg-Konzert unter der neuen Chefdirigentin Joana Mallwitz absolvierte und zum Schluss die beiden Brahms-Konzerte an zwei aufeinanderfolgenden Tagen stemmte. Nicht von ungefähr hieß hier der Dirigent Michael Sanderling, der in den Fußstapfen seines berühmten Vaters eine klar strukturierte und zugleich feurige Brahms-Interpretation ablieferte. Hinzu kamen ein Solo-Recital mit den drei letzten Beethoven-Sonaten, zwei Kammermusikabende, die Vorführung eines Porträtfilms mit Gespräch sowie ein sechsstündiger Meisterkurs mit Studenten der Musikhochschule „Hanns Eisler“.
Trotz dieses Marathons, der auch jedem und jeder Jüngeren großen Krafteinsatz abverlangt hätte, war die quicklebendige 78-Jährige ohne große Umstände bereit zu einem längeren Gespräch bei Kaffee und Tee.
Von Moskau nach Wien
Elisabeth Leonskaja lebt seit Jahrzehnten in Wien, doch ihre künstlerische Entwicklung fand in Russland statt. In Tiflis wurde sie geboren. Ihre russisch-jüdischen Eltern stammten aus Odessa und sind von dort vor den jüdischen Pogromen in die georgische Hauptstadt geflüchtet. Ihre Kindheit beschreibt sie als sehr glücklich, „in einem wunderschönen Land mit wunderschöner Landschaft, in dem viel gesungen wurde“. Als eines Tages ein Klavier in der Wohnung stand, fühlte die Siebenjährige sich magisch angezogen. Es war der Wunsch ihrer Mutter, einer ausgebildeten Pianistin und Sängerin, das Talent der Tochter zu fördern. „Es war auch alles sehr leicht“, meint Leonskaja, „mit zehn Jahren spielte ich öffentlich ein Haydn-Konzert, mit elf das erste Klavierkonzert von Beethoven.“
Zunächst machte sie sich über eine professionelle Ausbildung keine Gedanken, obwohl diese am Konservatorium in Tiflis durchaus anspruchsvoll war. Das änderte sich, als die Achtzehnjährige den George-Enescu-Wettbewerb in Bukarest gewann. Eine pianistische Karriere war jetzt in greifbarer Nähe. Leonskaja fühlte sich ermutigt, allein nach Moskau zu gehen, um dort bei Jacob Milstein, einem der dort angesehenen Pädagogen, zu studieren. „Schon damals fühlte ich mich mehr vom deutschen Repertoire angezogen, von Mozart, Beethoven und Schubert“, unterstreicht sie ihre Besonderheit. „Tschaikowsky und Rachmaninow spielten ja sowieso alle anderen.“ Sie gewann noch zahlreiche Wettbewerbe und machte eine vom damaligen Sowjetsystem streng reglementierte Karriere. So mussten alle Auslandsreisen genehmigt werden – und wurden aus unerklärten Gründen irgendwann ganz gestrichen. Elisabeth Leonskaja wurde in kleine Provinzstädte zu teils unbefriedigenden Veranstaltungen etwa für Kinder und Jugendliche geschickt. Insgesamt fühlte sie sich als „Halbjüdin“ in der sowjetischen Gesellschaft nicht mehr wohl. „Ich hatte nicht direkt Schwierigkeiten, aber ich spürte doch immer wieder, dass ich nicht wirklich dazugehörte.“ Doch jüdischen Bürgern war die Ausreise nach Israel gestattet. 1978 war es so weit. „Ich bekam ein Visum, das über Wien ging, Dort war ich tatsächlich zu einem Konzert eingeladen.“ Neun Tage vor Konzertbeginn traf das Visum ein, so dass die Pianistin es buchstäblich in letzter Minute zur ersten Probe schaffte. „In Wien bin ich dann hängengeblieben“, meint sie lächelnd. „Das reiche Kulturleben, die große musikalische Tradition hat mich angezogen. Außerdem kannte man mich dort schon.“
Richtig heimisch geworden ist sie dort trotzdem nicht. „In meiner Muttersprache und in meiner Musik bin ich zuhause“, sagt sie dazu, „es ist ja doch eine fremde Kultur und auch eine Gesellschaft, die mir eigentlich nicht liegt.“ So war es eine schmerzliche Entscheidung, die Heimat verlassen zu müssen. Andererseits hatte sie „nichts zu verlieren“. Ihre Eltern waren gestorben, ihre Ehe mit dem Geiger Oleg Kagan gerade gescheitert.
Durch Kagan hatte sie Svjatoslav Richter kenngengelernt, den legendären Pianisten, der zum Mentor und freundschaftlichen Berater für sie wurde. Gerade in dieser schweren Zeit war er ihr eine Stütze. „Er war ein ganz großer, unverwechselbarer Meister, jedes Konzert und jedes Musizieren mit ihm eine große Lehrstunde, wie eine Seite aus dem Lebensbuch“, schwärmt sie heute noch. Ihm verdanke sie eigentlich alles, vor allem die Entdeckung der nach unten offenen Piano-Skala, die Möglichkeit, immer noch leiser zu spielen. Zum Vorbild nahm sie auch seine völlige Versenkung in ein Musikstück, eine Hingabe, hinter der die eigene Person völlig verschwindet: „Alles muss aus der Musik selbst sprechen.“ Gerade in Krisenzeiten war sie oft in sein Haus eingeladen worden, war quasi Familienmitglied.
Das gesamte Gespräch mit Elisabeth Leonskaja lesen Sie in Ausgabe 4-2024 von PIANONews.
PIANONews 3 / 2024
Alexander Lonquich
Das Klavier als Instrument der Kommunikation
Alexander Lonquich (* 1960) ist ein Pianist mit einem ungewöhnlich breiten musikalischen Horizont. Er beherrscht den Hammerflügel ebenso gut wie den modernen Flügel, sein Repertoire reicht von Bach bis zur Gegenwart – Kammermusik inbegriffen. Und wenn ein Klavierkonzert auf dem Programm steht, dann kann man ihn auch schon einmal als Pianist und Dirigent in Personalunion erleben. Erst kürzlich hat er in dieser Doppelfunktion mit dem Münchner Kammerorchester alle fünf Beethoven-Konzerte aufgeführt. Beim Label ECM ist gerade eine CD-Edition mit den Live-Mitschnitten in Vorbereitung. Als Lonquich einmal mit der Deutschen Bahn im ICE von Köln nach Hannover reiste, um dort mit seinem Sohn, dem Klarinettisten Tommaso Lonquich, ein Konzert zu geben, reisten wir einfach mit. Der Speisewagen des Zuges erwies sich dabei als erstaunlich interviewtauglich.
Vater und Schubert
PIANONews: Als alteingesessenem Kölner ist mir der Name Lonquich natürlich sehr vertraut. Ihr Vater Heinz-Martin Lonquich war ja eine bekannte Musikerpersönlichkeit in Köln und über Köln hinaus. Aber damit war vermutlich auch Ihre Laufbahn, Herr Lonquich, gewissermaßen schon vorprogrammiert.
Alexander Lonquich: Ja, natürlich. Ich war der Erstgeborene. Bei uns zu Hause wurde seit Ewigkeiten Musik gemacht. Auch viel Neue Musik übrigens. Das hat das Klangspektrum gleich immens erweitert. Ich habe mich dann gleich in die Musik verliebt, und mein Vater hat mir – ich war 5 oder 6 Jahre alt – die ersten Klavierstunden gegeben. Ich kam dann zwei Jahre später zu Astrid Schmidt-Neuhaus – das ist die Nichte von Heinrich Neuhaus. Aber vor allem der Anfangsunterricht bei meinem Vater war sehr wichtig, weil es sofort nur um Musik ging, beispielsweise Phrasierung, Nebenstimmen, Mittelstimmen, also vieles, das Anfänger nicht gleich mitbekommen. Mein Vater befand sich als Komponist gerade in einer experimentellen Phase, studierte damals bei Bernd-Alois Zimmermann. Das fand ich alles ziemlich aufregend.
PIANONews: Er muss aber auch ein guter Pianist gewesen sein.
Alexander Lonquich: Ja, das war er. Er hatte so einen ganz natürlichen Zugang zum Klavier, der mich sehr geprägt hat. Er war ja auch Korrepetitor am Theater und hat permanent Opernpartituren studiert und gespielt. Das war ja eigentlich das Erste, was ich mitgekriegt habe. Deshalb war für mich später auch das Vom-Blatt-Spielen so wichtig.
PIANONews: Dann sind Sie ja vermutlich ein guter Vom-Blatt-Spieler, was man nicht von jedem Pianisten behaupten kann.
Alexander Lonquich: Ich glaube schon. Das lief ganz automatisch: Er hat es vorgemacht, und ich habe es einfach nachgemacht. Ich habe dann auch selbst improvisiert. Das war alles schon in dieser Frühphase angelegt.
PIANONews: Danach kamen schon relativ früh die ersten Wettbewerbsfolge.
Alexander Lonquich: Ja. Der wichtigste war zweifellos der Wettbewerb Alessandro Casagrande. Das war 1977, und der Wettbewerb war ausgerechnet Franz Schubert gewidmet, den ich gerade für mich entdeckt hatte. Das war auch der Moment, an dem ich anfing, regelmäßig Konzerte zu geben. Ich hatte natürlich schon vorher Konzerte gegeben, aber das war der Moment, ab dem man vom Beginn einer Art von Karriere sprechen kann. Schubert war in dem Moment auch eine besondere Entdeckung, weil zumindest die Sonaten noch relativ wenig gespielt wurden. Alfred Brendel und Swjatoslaw Richter waren die Ausnahme von der Regel. Aber für meine Generation war das eine Neuentdeckung. Auch der dunkle Aspekt der Schubert’schen Musik wurde damals gerade zum ersten Mal systematisch wahrgenommen. Das hat mich als aufwachsenden Jungen doch sehr gepackt, zumal ich schon immer eine große Beziehung zu Gustav Mahler hatte.
PIANONews: War das nicht auch die Zeit, als man heftig über Richters extrem gedehnte Interpretation der B-Dur-Sonate diskutierte?
Alexander Lonquich: Ja, das war das erste Mal, dass ein Schubert-Werk radikal anders gesehen wurde.
PIANONews: Wenn Sie in den späten 1970er Jahren zu den Schubert-Interpreten dazugestoßen sind, dann waren Sie ja aktiv an der Schubert-Renaissance beteiligt.
Alexander Lonquich: Ja, es hat mich wirklich gepackt. Ich bin dann eine gewisse Zeit mit der c-Moll-Sonate und einigen anderen späten Sonaten herumgereist. Für das Debüt-Album bei der Deutschen Grammophon habe ich die a-Moll-Sonate D 845 gewählt – zusammen mit Schönbergs drei Klavierstücken Op. 11.
PIANONews: Eine sehr stimmige Kombination, denn auch Arnold Schönberg war ja Wiener. Aber irgendwie auch sehr mutig.
Alexander Lonquich: Ja, mit diesen Klavierstücken bricht Schönberg auf sehr radikale Weise mit der Tonalität. Das ist nicht jedermanns Sache. Bis heute nicht.
PIANONews: Kann es sein, dass der Casagrande-Wettbewerb für Ihr ganzes Leben von prägender Bedeutung war?
Alexander Lonquich: Das kann man so sagen. Ich habe danach sehr viel in Italien konzertiert, habe dort auch geheiratet, und es ist später meine Heimat geworden. Mein Leben hat sich dann vorwiegend in Italien abgespielt.
PIANONews: Im Internet kursieren Videos, die einen kleinen Einblick in Ihr Leben gewähren. Es gibt da zum Beispiel einige Interviews – auf Italienisch natürlich – und eine ganze Reihe von Konzert-Videos mit und ohne Orchester. Und wenn man dann diese schönen Gebäude und Konzertsäle, zum Beispiel das von Mantua, sieht, dann versteht man natürlich sofort, wieso es Ihnen da so gut gefällt.
Alexander Lonquich: Ja, wobei gerade das Orchestra da Camera di Mantova für mich von Anfang an sehr wichtig war. Es gab ja damals nur wenige gute Orchester, und das Orchestra da Camera di Mantova war eines der besten und progressivsten. Ich glaube, wir sind 1986 zum ersten Mal zusammengekommen. Der Dirigent war damals Umberto Benedetti-Michelangeli, das ist der Neffe von Arturo Benedetti-Michelangeli. Danach bin ich ganz von alleine auf die Idee gekommen, Klavierspielen und Dirigieren miteinander zu verbinden. Das habe ich ganz systematisch gemacht. Wir haben zum Beispiel alle Konzerte von Mozart und Beethoven oder auch von Chopin und Schostakowitsch aufgeführt. Zudem haben wir in den letzten Jahren ein Festival gegründet, das einmal im Jahr stattfindet, immer Anfang Juli. Es nennt sich Drame sonore, was man mit Klangerzählung übersetzen könnte. Da kommen zwei- bis dreihundert Musiker an verschiedenen Spielorten, zum Beispiel dem wunderbaren Palazzo ducale, zusammen, und dann spielen wir von morgens bis abends.
PIANONews: Das sind natürlich ideale Bedingungen. Sie arbeiten nun schon seit einigen Jahren mit dem Orchester zusammen und können auch einige Einspielungen vorweisen. In dieser Zeit haben Sie sich gemeinsam weiterentwickelt. Wie würden Sie diese Entwicklung beschreiben?
Historische Aufführungspraxis
Alexander Lonquich: Die Musiker haben sich alle in Richtung historische Aufführungspraxis entwickelt. Das haben die alle mitgemacht.
PIANONews: In dieser Materie mussten Sie sich vermutlich aber auch erst einarbeiten.
Alexander Lonquich: Das stimmt. Ich kam ja aus einem Kreis, in dem das alles nichts galt. Dann habe ich mir die Monteverdi-Aufnahmen von Nicolaus Harnoncourt geholt und war plötzlich auf der anderen Seite. [lacht] Nun muss ich allerdings sagen, dass mein Lehrer Paul Badura-Skoda, bei dem ich von 1976 bis 1980 war, auch immer auf dem Hammerflügel spielte. Über ihn bekam ich ja schon alles mit, also wie man Partituren lesen sollte, und dass man selbst dem Urtext nicht trauen sollte. Und dann konnte ich bei ihm natürlich auch das Spielen auf dem Hammerflügel ausprobieren.
PIANONews: Aber Aufnahmen mit Hammerflügel gibt es von ihnen nicht viele. Bei ihrer Aufnahme sämtlicher Werke für Cello und Klavier von Beethoven mit Nicolas Altstaedt kam ein Hammerklavier zum Einsatz. Aber sonst?
Alexander Lonquich: [lacht] Doch. Es gibt einen Mitschnitt vom Klavierfestival Ruhr 2006, wo ich Beethovens „Hammerklaviersonate“ auf einem modernen Flügel und die Beethoven-Sonate Op. 7 auf einem Hammerflügel spiele. Aber ich habe es auch daneben relativ häufig gemacht. In Italien habe ich in mehreren Konzertzyklen an je einem Abend zwischen den Instrumenten gewechselt: Ein Teil war dem modernen, ein anderer Teil dem historischen Instrument gewidmet. Auf diese Weise wollte ich dem Publikum den Unterschied zwischen den Instrumenten nahebringen.
Das ganze Interview mit Alexander Lonquich lesen Sie in PIANONews 2-2024.
PIANONews 2 / 2024
Alexander Lonquich
Das Klavier als Instrument der Kommunikation
Alexander Lonquich (* 1960) ist ein Pianist mit einem ungewöhnlich breiten musikalischen Horizont. Er beherrscht den Hammerflügel ebenso gut wie den modernen Flügel, sein Repertoire reicht von Bach bis zur Gegenwart – Kammermusik inbegriffen. Und wenn ein Klavierkonzert auf dem Programm steht, dann kann man ihn auch schon einmal als Pianist und Dirigent in Personalunion erleben. Erst kürzlich hat er in dieser Doppelfunktion mit dem Münchner Kammerorchester alle fünf Beethoven-Konzerte aufgeführt. Beim Label ECM ist gerade eine CD-Edition mit den Live-Mitschnitten in Vorbereitung. Als Lonquich einmal mit der Deutschen Bahn im ICE von Köln nach Hannover reiste, um dort mit seinem Sohn, dem Klarinettisten Tommaso Lonquich, ein Konzert zu geben, reisten wir einfach mit. Der Speisewagen des Zuges erwies sich dabei als erstaunlich interviewtauglich.
Vater und Schubert
PIANONews: Als alteingesessenem Kölner ist mir der Name Lonquich natürlich sehr vertraut. Ihr Vater Heinz-Martin Lonquich war ja eine bekannte Musikerpersönlichkeit in Köln und über Köln hinaus. Aber damit war vermutlich auch Ihre Laufbahn, Herr Lonquich, gewissermaßen schon vorprogrammiert.
Alexander Lonquich: Ja, natürlich. Ich war der Erstgeborene. Bei uns zu Hause wurde seit Ewigkeiten Musik gemacht. Auch viel Neue Musik übrigens. Das hat das Klangspektrum gleich immens erweitert. Ich habe mich dann gleich in die Musik verliebt, und mein Vater hat mir – ich war 5 oder 6 Jahre alt – die ersten Klavierstunden gegeben. Ich kam dann zwei Jahre später zu Astrid Schmidt-Neuhaus – das ist die Nichte von Heinrich Neuhaus. Aber vor allem der Anfangsunterricht bei meinem Vater war sehr wichtig, weil es sofort nur um Musik ging, beispielsweise Phrasierung, Nebenstimmen, Mittelstimmen, also vieles, das Anfänger nicht gleich mitbekommen. Mein Vater befand sich als Komponist gerade in einer experimentellen Phase, studierte damals bei Bernd-Alois Zimmermann. Das fand ich alles ziemlich aufregend.
PIANONews: Er muss aber auch ein guter Pianist gewesen sein.
Alexander Lonquich: Ja, das war er. Er hatte so einen ganz natürlichen Zugang zum Klavier, der mich sehr geprägt hat. Er war ja auch Korrepetitor am Theater und hat permanent Opernpartituren studiert und gespielt. Das war ja eigentlich das Erste, was ich mitgekriegt habe. Deshalb war für mich später auch das Vom-Blatt-Spielen so wichtig.
PIANONews: Dann sind Sie ja vermutlich ein guter Vom-Blatt-Spieler, was man nicht von jedem Pianisten behaupten kann.
Alexander Lonquich: Ich glaube schon. Das lief ganz automatisch: Er hat es vorgemacht, und ich habe es einfach nachgemacht. Ich habe dann auch selbst improvisiert. Das war alles schon in dieser Frühphase angelegt.
PIANONews: Danach kamen schon relativ früh die ersten Wettbewerbsfolge.
Alexander Lonquich: Ja. Der wichtigste war zweifellos der Wettbewerb Alessandro Casagrande. Das war 1977, und der Wettbewerb war ausgerechnet Franz Schubert gewidmet, den ich gerade für mich entdeckt hatte. Das war auch der Moment, an dem ich anfing, regelmäßig Konzerte zu geben. Ich hatte natürlich schon vorher Konzerte gegeben, aber das war der Moment, ab dem man vom Beginn einer Art von Karriere sprechen kann. Schubert war in dem Moment auch eine besondere Entdeckung, weil zumindest die Sonaten noch relativ wenig gespielt wurden. Alfred Brendel und Swjatoslaw Richter waren die Ausnahme von der Regel. Aber für meine Generation war das eine Neuentdeckung. Auch der dunkle Aspekt der Schubert’schen Musik wurde damals gerade zum ersten Mal systematisch wahrgenommen. Das hat mich als aufwachsenden Jungen doch sehr gepackt, zumal ich schon immer eine große Beziehung zu Gustav Mahler hatte.
PIANONews: War das nicht auch die Zeit, als man heftig über Richters extrem gedehnte Interpretation der B-Dur-Sonate diskutierte?
Alexander Lonquich: Ja, das war das erste Mal, dass ein Schubert-Werk radikal anders gesehen wurde.
PIANONews: Wenn Sie in den späten 1970er Jahren zu den Schubert-Interpreten dazugestoßen sind, dann waren Sie ja aktiv an der Schubert-Renaissance beteiligt.
Alexander Lonquich: Ja, es hat mich wirklich gepackt. Ich bin dann eine gewisse Zeit mit der c-Moll-Sonate und einigen anderen späten Sonaten herumgereist. Für das Debüt-Album bei der Deutschen Grammophon habe ich die a-Moll-Sonate D 845 gewählt – zusammen mit Schönbergs drei Klavierstücken Op. 11.
PIANONews: Eine sehr stimmige Kombination, denn auch Arnold Schönberg war ja Wiener. Aber irgendwie auch sehr mutig.
Alexander Lonquich: Ja, mit diesen Klavierstücken bricht Schönberg auf sehr radikale Weise mit der Tonalität. Das ist nicht jedermanns Sache. Bis heute nicht.
PIANONews: Kann es sein, dass der Casagrande-Wettbewerb für Ihr ganzes Leben von prägender Bedeutung war?
Alexander Lonquich: Das kann man so sagen. Ich habe danach sehr viel in Italien konzertiert, habe dort auch geheiratet, und es ist später meine Heimat geworden. Mein Leben hat sich dann vorwiegend in Italien abgespielt.
PIANONews: Im Internet kursieren Videos, die einen kleinen Einblick in Ihr Leben gewähren. Es gibt da zum Beispiel einige Interviews – auf Italienisch natürlich – und eine ganze Reihe von Konzert-Videos mit und ohne Orchester. Und wenn man dann diese schönen Gebäude und Konzertsäle, zum Beispiel das von Mantua, sieht, dann versteht man natürlich sofort, wieso es Ihnen da so gut gefällt.
Alexander Lonquich: Ja, wobei gerade das Orchestra da Camera di Mantova für mich von Anfang an sehr wichtig war. Es gab ja damals nur wenige gute Orchester, und das Orchestra da Camera di Mantova war eines der besten und progressivsten. Ich glaube, wir sind 1986 zum ersten Mal zusammengekommen. Der Dirigent war damals Umberto Benedetti-Michelangeli, das ist der Neffe von Arturo Benedetti-Michelangeli. Danach bin ich ganz von alleine auf die Idee gekommen, Klavierspielen und Dirigieren miteinander zu verbinden. Das habe ich ganz systematisch gemacht. Wir haben zum Beispiel alle Konzerte von Mozart und Beethoven oder auch von Chopin und Schostakowitsch aufgeführt. Zudem haben wir in den letzten Jahren ein Festival gegründet, das einmal im Jahr stattfindet, immer Anfang Juli. Es nennt sich Drame sonore, was man mit Klangerzählung übersetzen könnte. Da kommen zwei- bis dreihundert Musiker an verschiedenen Spielorten, zum Beispiel dem wunderbaren Palazzo ducale, zusammen, und dann spielen wir von morgens bis abends.
PIANONews: Das sind natürlich ideale Bedingungen. Sie arbeiten nun schon seit einigen Jahren mit dem Orchester zusammen und können auch einige Einspielungen vorweisen. In dieser Zeit haben Sie sich gemeinsam weiterentwickelt. Wie würden Sie diese Entwicklung beschreiben?
Historische Aufführungspraxis
Alexander Lonquich: Die Musiker haben sich alle in Richtung historische Aufführungspraxis entwickelt. Das haben die alle mitgemacht.
PIANONews: In dieser Materie mussten Sie sich vermutlich aber auch erst einarbeiten.
Alexander Lonquich: Das stimmt. Ich kam ja aus einem Kreis, in dem das alles nichts galt. Dann habe ich mir die Monteverdi-Aufnahmen von Nicolaus Harnoncourt geholt und war plötzlich auf der anderen Seite. [lacht] Nun muss ich allerdings sagen, dass mein Lehrer Paul Badura-Skoda, bei dem ich von 1976 bis 1980 war, auch immer auf dem Hammerflügel spielte. Über ihn bekam ich ja schon alles mit, also wie man Partituren lesen sollte, und dass man selbst dem Urtext nicht trauen sollte. Und dann konnte ich bei ihm natürlich auch das Spielen auf dem Hammerflügel ausprobieren.
PIANONews: Aber Aufnahmen mit Hammerflügel gibt es von ihnen nicht viele. Bei ihrer Aufnahme sämtlicher Werke für Cello und Klavier von Beethoven mit Nicolas Altstaedt kam ein Hammerklavier zum Einsatz. Aber sonst?
Alexander Lonquich: [lacht] Doch. Es gibt einen Mitschnitt vom Klavierfestival Ruhr 2006, wo ich Beethovens „Hammerklaviersonate“ auf einem modernen Flügel und die Beethoven-Sonate Op. 7 auf einem Hammerflügel spiele. Aber ich habe es auch daneben relativ häufig gemacht. In Italien habe ich in mehreren Konzertzyklen an je einem Abend zwischen den Instrumenten gewechselt: Ein Teil war dem modernen, ein anderer Teil dem historischen Instrument gewidmet. Auf diese Weise wollte ich dem Publikum den Unterschied zwischen den Instrumenten nahebringen.
Das ganze Interview mit Alexander Lonquich lesen Sie in PIANONews 2-2024.
PIANONews 1 / 2024
Pierre-Laurent Aimard
Kampf gegen die Gleichförmigkeit
Von: Carsten Dürer
Wenn er sich an den Flügel setzt, wird schon mit den ersten Tönen, die er dem Instrument entlockt, eine flirrende Intensität im Saal erzeugt, die die Zuhörer in ihren Bann zieht. Der 1957 in Lyon geborene Pianist hat sich immer schon für besondere „Projekte“, wie er sie nennt, interessiert. Damit meint er auch Repertoire-Bereiche, die oftmals nicht im Fokus des Interesses stehen. Dass er sich neben allen wichtigen Kernwerken auch immer wieder der Moderne zuwendet, kann man allein daran ablesen, dass er mit Komponisten wie Karlheinz Stockhausen, György Ligeti, Pierre Boulez, Helmut Lachenmann oder Elliot Carter zusammengearbeitet hat. Seine Konzertagenda ist beeindruckend, obwohl er diese limitiert halten will, wie er meint. Wir trafen den Franzosen in der Essener Philharmonie zwischen zwei Konzertauftritten.
PIANONews: Herr Aimard, seit wir Sie das erste Mal 2002 in PIANONews vorgestellt haben, ist viel Zeit vergangen. Ich will nun nicht, dass wir diese vielen Jahre Revue passieren lassen. Aber eines scheint sich niemals bei Ihnen geändert zu haben: das Interesse an ungewöhnlichem und für Sie immer neuen Repertoire. Haben Sie so etwas wie eine Wunschliste an Werken, die Sie noch erarbeiten wollen?
Pierre-Laurent Aimard: Es gibt keine Liste, es sind Wünsche, solche, die konstant bleiben. Es gibt auch andere Wünsche, die auf einen zukommen. Das, was Sie Liste nennen, verändert sich beständig.
PIANONews: Also gibt es Werke, die plötzlich auftauchen, wenn ich das richtig verstehe, und dann gibt es Langzeitprojekte, bei denen Sie sagen: Da will ich einmal drangehen.
Pierre-Laurent Aimard: Ja, beispielsweise bei alter Musik gibt es Komponisten und Werke, bei denen man denkt: Ja, diese will ich einmal erarbeiten. Mit der neuesten Musik ist es natürlich anders: Sie erscheint aktuell, und die Wünsche kommen manches Mal unerwartet. Bei diesen neuen Werken kommen die Impulse oft aus einem Moment heraus.
Neue Musik und Avantgarde
PIANONews: Gibt es tatsächlich viele lebende Komponisten, die an Sie herantreten mit der Frage oder Bitte, dass Sie ihre Musik aufführen?
Pierre-Laurent Aimard: Klar. Die Pianisten, die Neue Musik spielen, stellen ja keine Mehrheit dar. Da wird jeder oft gefragt. Die Frage, die immer im Leben auftaucht: Sind die an einen herangetragenen Wünsche auch in Korrespondenz mit denen der anderen Seite, in diesem Fall, mit denen der Interpreten? Oder auch die Verfügbarkeit. Manchmal hat man Interesse an einem Werk oder einem Schöpfer, aber man hat dann nicht die Kapazitäten, oder nicht das Talent … nicht die Zeit, um ein Diener der Situation zu sein.
PIANONews: Gerade wenn man ein so breites Repertoire spielt wie Sie – also von der Barockmusik bis zur Moderne – dann geht es ja auch immer um eine andere musikalische Sprache. Ist der Wechsel zwischen diesen Sprachen schwierig?
Pierre-Laurent Aimard: Jede Sprache benötigt einen Prozess des Lernens. Aber wenn man manchmal Musik aus einer einzigen Ära betrachtet – wenn Sie beispielsweise die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Kunst anschauen … also Bartók, Debussy, der späte Skrjabin, Strawinsky … diese Komponisten haben manchmal etwas Gemeinsames, sind aber dann doch sehr unterschiedlich. Vor allem seit dem Ende des tonalen Systems können wir nichts anderes tun, als polyglott zu denken. Das ist eine tolle Sache, finde ich.
PIANONews: Ja, natürlich leben wir in einer tollen Zeit, da wir auf so vieles zurückblicken können, aber auf der anderen Seite so viel Modernes haben. Weil Sie nun bereits sehr bekannt als Interpret sind: Fällt es Ihnen leicht, wenn Sie ein ungewöhnliches Programm mit unbekannteren Werken programmieren wollen, einen Veranstalter davon zu überzeugen?
Pierre-Laurent Aimard: [denkt nach] Das ist eines der Probleme und der Chancen. Natürlich kann man seinen Namen irgendwie in einer „Verhandlung“ eines Programms nicht vergessen lassen [er lacht]. Ich glaube eine bestimmte professionelle Anerkennung zu haben, gibt einem die Möglichkeiten, mehr zu realisieren – wenn man sich nicht selbst davon gefangen nehmen lässt. Ich meine, wenn Sie bekannter werden, können Sie ihre Bekanntheit dafür nutzen, um anspruchsvollere Programme realisieren, oder einfach nur, um mehr Publikum zu haben, mit einem stärker kommerziellen oder oberflächlichen Ziel. Jeder macht es so, wie er will …
PIANONews: Für die zweite Kategorie gibt es ja etliche berühmte Beispiele …
Pierre-Laurent Aimard: Da war immer so, das ist eine Realität in unserer Gesellschaft. Das ist in allen Berufen so. Wenn Sie in irgendeinem Bereich mehr können als andere, kann man dies auf unterschiedliche Weise benutzen. Jeder kann nur seine ganz eigenen Ziele vorantreiben.
PIANONews: Bekannt ist Ihr Name ja vor allem mit neuer Musik geworden, richtig?
Pierre-Laurent Aimard: Ja, aber ich habe immer versucht, kein Spezialist zu sein.
Das gesamte Interview mi Pierre-Laurent Aimard lesen Sie in der Ausgabe 1-2024 von PIANONews.
PIANONews
Ausgaben 2023
PIANONews 1 / 2023
Vadym Kholodenko
„Ich finde es besser, ein Kammermusiker zu sein.“
Von: Isabel Herzfeld
Der Gewinn des Van-Cliburn-Wettbewerbs in Texas 2013 bescherte ihm den Durchbruch. Da war Vadym Kholodenko bereits 26 Jahre alt und „ein erfahrener Musiker, der mitten im Leben stand“, wie er selbst ein bisschen augenzwinkernd sagt. Mittlerweile ist der ukrainische Pianist ein überaus gefragter Musiker, dessen Tourneen ihn in die USA, durch Westeuropa, nach Japan, Australien und China führten. Doch er geht seine Karriere ganz gelassen an, und so trifft man ihn durchaus auch auf Veranstaltungen abseits der klassischen Glamour-Events. Unsere erste Begegnung fand vor fünf Jahren bei den Spectrum-Concerts Berlin statt, wo Kholodenko sich mit dem noch ganz spätromantischen Klavierquintett von Béla Bartók als ebenso versierter wie sensibler Kammermusiker erwies. „Ein frühes Meisterwerk“, meint der Pianist, „das leider so gut wie nie gespielt wird.“ Und er hat auch gleich eine Geschichte dazu zu erzählen: „Bartók selbst wollte das Stück nicht veröffentlichen, weil er es für viel zu romantisch hielt. Also war auch die Partitur nicht mehr zu finden und lange verloren geglaubt. Es war Ernst von Dohnányi, der das Quintett aus dem Gedächtnis rekonstruierte und damit für die Nachwelt rettete.“ Das weitgespannte, vorurteilslose Interesse für Musik aller Art ist typisch für Kholodenko, der auch mit eigenen Arrangements und eigens für Mozarts Klavierkonzert Nr. 21 geschriebenen Kadenzen hervortrat und damit auf große Begeisterung stieß. Es führte ihn auch zum Festival „Raritäten der Klaviermusik“ in Husum, wo er noch vor seinem Auftritt Zeit für unser Gespräch fand.
„Inseln der Freiheit“
„Ehrlich gesagt hatte ich von diesem Festival noch nie etwas gehört“, meint Kholodenko, der in Deutschland noch nicht sehr häufig aufgetreten ist. „Es war Peter Froundjian, der künstlerische Leiter, der an mich herangetreten ist. Sein Interesse für selten gespielte Klaviermusik hat mich sofort angesprochen, weil man ja meistens, wenn man auf Tournee ist oder in Konzertreihen spielt, von den Veranstaltern meistens um die üblichen, häufig gespielten Programme gebeten wird. Ich verstehe auch vollkommen, dass man sein Angebot nach dem Geschmack der Leute aufbaut, die die Karten kaufen. Andererseits sind es Inseln der Freiheit, wenn einem erlaubt wird, etwas Neues zu spielen. Es ist eine Sache, die Nachfrage des Publikums zu befriedigen, eine andere, dem Publikum etwas Neues zu präsentieren und damit seinen Geschmack zu verändern.“
In Husum ging das allerdings nicht ganz glatt. Aufgrund eines Missverständnisses war Kholodenkos Programm viel zu lang geraten: Frederic Rzewskis monumentaler Variationen-Zyklus „The People United Will Never Be Defeated“ stand neben Beethoven-Variationen, der Schubert-Sonate in Es-Dur von 1817 und der 1. Sonate von 1990 des australischen Komponisten Carl Vine, die sich noch auf sehr eigene Weise an der Tonalität abarbeitet. „Doch allein Rzewski hätte über eine Stunde gedauert“, meint der Pianist, und so musste das zwischen musikalischer und politischer Avantgarde changierende Stück, für das sich neuerdings Igor Levit einsetzt, das aber auch in nicht minder interessanten Aufnahmen von Marc-André Hamelin und Kai Schumacher vorliegt, einer Komposition des Briten Thomas Adès weichen. Zum Glück hat auch Kholodenko die Variationen aufgenommen – leider zu spät, um sie noch den Komponisten kurz vor seinem Tod hören zu lassen. Die Aufnahme ist soeben erschienen und den Menschen „einer freien, unabhängigen Ukraine“ gewidmet.
An Adès reizt Kholodenko, dass Klaviermusik vollkommen aus dem Rahmen des Üblichen herausfällt. „Wenn man den ersten Blick in die Partitur tut, glaubt man, das ist nicht für Klavier geschrieben. Das ist eine andere Art von Logik. Es entstehen Klänge, die man nicht beim Klavier vermutet – ein Instrument, das man zu kennen glaubt, verwandelt sich total.“ Ohne dass, wie das in der Avantgardemusik gerne gehandhabt wird, die Saiten oder der hölzerne Korpus des Flügels einbezogen werden, ist durch raffinierte Pedaltechniken manches zu hören, was man eher der menschlichen Stimme oder einem Blasinstrument zuordnen würde.
Auch an der Schubert-Sonate, die der erfahrene Hörer vielleicht nicht als „Rarität“ empfinden würde, interessiert Kholodenko der Klang, der aus dem Experimentieren kommt: „Die Sonate wurde ursprünglich in Des-Dur geschrieben, eine Tonart, die einfach ganz anders klingt. Man kann in der Partitur die Stelle sehen, an der Schubert abgebrochen hat, er begann dann noch einmal ganz neu. Wenn man beabsichtigt, das auf einem historischen Klavier zu spielen, würden sich auf jeden Fall ganz andere Farben ergeben, und ich versuche das auch ein wenig auf den modernen Flügel zu übertragen.“ Kholodenko verfügt über außergewöhnliche Anschlagskünste, eine aus dem Leisen heraus aufgebaute Klangsensibilität, die die Härten vieler moderner Instrumente vergessen lässt.
Schnell sind wir ganz allgemein bei musikalischen Vorurteilen, die zur Reduzierung unserer Konzerterfahrungen auf Bekanntes oder sogar Erlaubtes beitragen.
Das gesamte Gespräch mit Vadym Kholodenko lesen Sie in Ausgabe 1-2023 von PIANONews.
PIANONews 2 / 2023
Stephen Hough
Musik als diplomatisches Mittel
Von: Carsten Dürer
Er ist einer der aktivsten Pianisten unserer Zeit: Der Engländer Stephen Hough spielt viele Konzerte, in aller Welt. Daneben schreibt er kontinuierlich über alles, was ihn bewegt – und über Musik. Dass er auch beständig neue Werke komponiert, wissen nur eingeweihte Kenner. In Deutschland ist er weitaus seltener anzutreffen als in anderen Ländern. Als er einige Konzerte mit dem Niederländischen Concertgebouw Orkest unter der Leitung von Sir John Eliot Gardiner in Amsterdam und in Essen im Januar dieses Jahres spielte, trafen wir ihn zum Gespräch.
Obwohl er am Abend zuvor noch im Concertgebouw in Amsterdam spielte und mit dem Klavierkonzert Nr. 2 von Johannes Brahms kein leichtes Programm vor ihm liegt, scheint er extrem entspannt zu sein, als wir uns in der Essener Philharmonie in seiner Künstlergarderobe zusammensetzen. Als er mich fragt, von wo ich angereist wäre und ich Düsseldorf zur Antwort gebe, erinnert er sich, dass ihn als Jugendlicher die erste Auslandsreise seines Lebens ausgerechnet nach Düsseldorf führte.
Kindheit und Ausbildung
PIANONews: Sie hatten als Kind eine etwas ungewöhnliche Jugend, denn eigentlich sind Sie in Australien geboren, oder?
Stephen Hough: Nein, mein Vater ist in Australien geboren, ich dagegen im Norden von England, in Heswall.
PIANONews: Habe ich es falsch verstanden, dass Ihre Mutter Ihren Vater zurückließ und allein nach England ging?
Stephen Hough: Nein, das war in einer anderen Generation unserer Familie. Was geschah: Meine Großeltern väterlicherseits trafen sich in Indien und gingen dann nach Australien. Sie waren in der Stahlindustrie tätig. Mein Vater wurde 1926 in Australien geboren, aber mein Großvater schickte meinen Vater wieder mit nach Indien, und sie sahen sich nie wieder. Aber seit fast eintausend Jahren ist die Familie Englisch. Australien war nur ein Geschäftsort im Leben meiner Großeltern. Es ist soeben ein Buch von mir erschienen, in dem ich all dies genauer beschreibe. Es heißt „Enough“ [Genug], und ich erzähle über meine Familie bis zu meinen 21 Lebensjahr. Ich selbst bin aber Englisch und fühle mich mit dem Norden Englands sehr verbunden, auch wenn ich heute in London lebe.
PIANONews: Besuchen Sie Ihre alte Heimat noch ab und zu?
Stephen Hough: Eigentlich nicht. Alle sind mittlerweile verstorben, meine Eltern, meine Verwandten – ja selbst meine Freunde. So ist es etwas traurig, dorthin zurückzukehren, denn es gibt diese Kindheitserinnerungen – aber es gibt keinen anderen mehr aus dieser Zeit. Allerdings spiele ich fast jedes Jahr in Manchester oder Liverpool. Dann sehe ich einige Leute, aber ich habe keine wirkliche Beziehung mehr zu dieser Gegend.
PIANONews: Sie haben mit fünf Jahren mit dem Klavierspiel begonnen. Warum ausgerechnet mit dem Klavier?
Stephen Hough: In meinem Elternhaus gab es keine Musik, keine Schallplatten, nichts. Aber ich hatte eine Tante, die ein Klavier besaß. Und dort spielte ich nach Aussage meines Vaters Akkorde. Ich erinnerte mich an einige Kinderlieder, die ich nachspielte, und als ich drei Jahre alt war, versuchte ich, meine Eltern zu überzeugen, dass ich Klavierspielen lernen will. Also kaufte mein Vater solch ein Spielzeugklavier mit einer Oktave. Das war natürlich nicht sonderlich befriedigend. Und dann kaufte meine Mutter ein großes altes deutsches Klavier, so eines mit Rosenholzfurnier und Kerzenhaltern, in einem Gebrauchtwarengeschäft. Ich liebte es und erhielt Unterrichtsstunden von einem Lehrer vor Ort.
PIANONews: Anscheinend war es ein sehr guter Lehrer, denn Sie entwickelten sich am Instrument.
Stephen Hough [lacht]: Nein, aber mein zweiter Lehrer war gut. Meine Mutter hatte einfach nur im Telefonbuch nach einem Lehrer in der Umgebung Ausschau gehalten. Nach einiger Zeit fand ich dann eine bessere Lehrerin, die mir viel beibrachte. Und nach einem Jahr bei ihr spielte ich bereits im Finale eines Wettbewerbs in London. Ich war der jüngste Teilnehmer, und gerade habe ich erfahren, dass Gerald Moore, der große Begleiter von Sängern, der der Juryvorsitzende war, sagte, dass ich ein vielversprechendes Talent wäre. Das ist natürlich sehr schön. Das war 1968/69.
PIANONews: Welcher Wettbewerb war das?
Stephen Hough: Er nannte sich „The National Junior Piano Competition“. Wir spielten damals das Finale in London im Purcell-Room im Westbank Center, der damals soeben erst gebaut war – das kommt uns heute so vor, als sei er antik – so wie ich es bin. [er lacht]
PIANONews: Dann ging es für Sie auf die Chetham’s School of Music, eine Zeit, die Sie nicht besonders mochten, richtig?
Stephen Hough: Nein, es war eine schreckliche Zeit. Ich hatte so etwas wie einen Nervenzusammenbruch, ich wollte nicht zur Schule gehen, ich hatte Angst, auf der Straße von Jugendlichen angegriffen zu werden, was dann auch irgendwann passierte. Es war eine schwierige Zeit. Diese Schule – die heute ein exzellenter Ort ist – war in einem schrecklichen Zustand. Lehrer gingen ins Gefängnis, der akademische Zustand war schrecklich. Aber ich habe es überlebt. Mein wichtigster Lehrer dort, der dann ans Northern College of Music in Manchester wechselte, riet mir, die Schule zu verlassen. Als ich 16 Jahre war und ich gerade meine Mittlere Reife hatte, ging ich ans Northern Royal College of Music. Als ich dorthin kam, veränderte sich alles. Ich wurde auf einmal der beste Student in der Schule. Ich bin sehr glücklich, auch diese Geschichte in meinem neuen Buch zu erzählen. Denn es gibt Eltern, die scheinbar schwierige jugendliche Kinder haben, die anscheinend nichts tun. Auch ich schaute jeden Tag für sechs Stunden Fernsehen, machte nichts, las nichts.
PIANONews: Sie wollen diesen Eltern also Hoffnung geben, dass es auch anders ausgehen kann, als es im ersten Moment aussieht …
Stephen Hough: Ich empfehle dies nicht, aber ich denke, dass der Geist manches Mal in unterschiedlicher Weise arbeiten kann. Es muss nicht alles gleich an jährlichen Resultaten von Prüfungen gemessen werden. Mein Lehrer Gordon Green sagte mir schon sehr früh: Es gibt so etwas wie eine kontinuierliche Entwicklung nicht. Wenn man sich in der Entwicklung befindet, bleibt man oft stehen. Dann gibt es eine Periode, in der man diese vorangegangene Entwicklung verarbeitet, und dies befähigt einen dann wieder zu einer weiteren Entwicklung. Das traf auf mich zu.
PIANONews: Als Sie dann so glücklich waren in England, warum sind Sie dann in die USA gegangen?
Stephen Hough: Ich habe ein Stipendium für ein Auslandsstudium gewonnen. Und ich hatte den Eindruck, dass ich genug mit den Lehrern in Manchester gearbeitet hatte. London wäre ein Möglichkeit gewesen, aber dorthin wollte ich eigentlich nicht gehen. Eigentlich wollte ich aus dem Land heraus. Es hätte Deutschland werden können, eine Zeitlang habe ich auch über Paris nachgedacht. Aber dann kam die Idee, in die USA zu gehen in meinen Kopf und ich dachte, dass es eine vollkommene Veränderung wäre. Also ging ich an die Juilliard School in New York 1981 und machte dort auch meinen Master-Abschluss. Nun habe ich schon selbst ein paar Studenten an dieser Hochschule.
PIANONews: An der Juilliard?
Stephen Hough: Ja.
Plötzlich erwachsen
PIANONews: Eine wirkliche Veränderung brachte dann vor allem der Gewinn des in den USA renommierten Naumburg-Wettbewerb, richtig?
Stephen Hough: Ja, ich war 21 Jahre alt und hatte gerade mein Masterstudium beendet. Und ich habe mich einfach eingeschrieben, so wie man ein Lotterielos kauft. Ich wollte eigentlich noch nicht beginnen, Konzerte zu spielen, ich hatte nicht genug Repertoire, Klavierkonzerte vorbereitet. Ich wollte weiterhin Spaß mit meinen Freunden haben, mit ihnen in Bars gehen. Mit 21 Jahren dachte ich, dass ich noch ein paar Jahre weiterstudieren und dann ernsthaft an Wettbewerben teilnehmen würde. Also: Ich nahm an diesem Wettbewerb teil – und gewann. Und plötzlich musste ich mit dem Chicago Symphony Orchestra spielen und mit dem Philadelphia Orchestra und eine CD-Einspielung vornehmen. All dies passierte und war ein ziemlicher Schock. Ich wurde über Nacht erwachsen, ich brauchte plötzlich einen Buchhalter, Manager und all diese Erwachsenendinge, nachdem ich gerade noch ein Student war. Und ich liebte es, Student zu sein. Immerhin war dies die Zeit in New York, die ich wirklich erstmals richtig von zu Hause weg war – und ich hatte viele Freunde, wir hatten viel Spaß. Und wenn ich zurückblicke und sehe wo ich heute stehe, war dies ein kontinuierlicher Fluss an Konzerten – es ist ein sehr bewegtes Leben seither.
Das gesamte Interview mit Stephen Hough lesen Sie in Ausgabe 2-2023 von PIANONews.
PIANONews 3 / 2023
Authentisch in jeder Nuance
Sophie Pacini
Von: Carsten Dürer
Geboren ist Sophie Pacini in München als Kind einer deutschen Mutter und eines italienischen Vaters. Mit Sechs begann sie, Klavier zu spielen, mit Neun trat sie erstmals öffentlich in einem Konzert auf. Seither ist das Klavier das Zentrum der heute 31-jährigen Pianistin. Schon früh zeichnete sich ab, dass Pacini ihren Weg ohne große Klavierwettbewerbe machen wird, war sie doch bereits als Teenager mit Konzerten beschäftigt, die sie gar nicht in die Situation brachten, dass sie Hunger nach Klavierwettbewerben gehabt hätte. Ihre Ausbildung erhielt sie am Mozarteum in Salzburg. Etliche CDs hat sie veröffentlicht. Nun kommt eine weitere unter dem Namen „Puzzle“ hinzu, auf der sie Werke von Frédéric Chopin mit einigen Préludes von Alexander Skrjabin verbindet. Wir trafen Sophie Pacini, um mit ihr über ihre Gedanken zur Musik, ihren Entwicklungsweg und ihre Ansichten zum Musikgeschäft zu sprechen.
In den Januartagen, in denen wir uns treffen, ist sie unterwegs, um ihre neue CD in Interviews und Fernseh- sowie Radiosendungen zu promoten. Doch auch Konzerte stehen an, die sie spielt. Sie ist bester Laune und sofort im Thema, als ich Frage, warum sie ausgerechnet in Salzburg studierte, zuerst bei Karlheinz Kämmerling. „Zu Karlheinz Kämmerling bin ich mit acht Jahren gegangen. Damals gab es die Überlegung, ob ich zu ihm nach Hannover gehe oder nach Salzburg. Meine Eltern haben dann überlegt, dass Salzburg von München natürlich deutlich näher ist als Hannover. Zu Pavel Gililov bin ich nach sieben Jahren bei Karlheinz Kämmerling gegangen. Ich hatte überlegt, ob ich zu ihm nach Köln wechseln sollte, aber er kam dann auch nach Salzburg, so dass ich die gesamte Ausbildung in Salzburg hatte.“ Zu Pavel Gililov wechselte Pacini, als sie 15 Jahre alt war. Mit 19 hatte sie bereits ihren Bachelor-Abschluss in der Tasche. „Das war früh, aber da ich mit 10 Jahren schon an das damals neu gegründete Hochbegabtenzentrum des Mozarteums in Salzburg, das ‚Leopold Mozart Institut für Begabtenförderung‘ gewechselt war, hatte ich schon viele Fächer absolviert, die mir im Hauptstudium anerkannt wurden. Ich war dann auch die erste Absolventin dieses neuen Instituts. Ein Master-Studium hat sich dann für mich nicht mehr ergeben, da ich dann bereits bei einer Agentur unter Vertrag war und meine Konzerttätigkeit losging.“ Sie hielt noch eine Weile den Kontakt zu Gililov, doch dann „kam ja Martha Argerich in mein Leben“, wie Pacini sagt. „Ich habe aber viel von Gililov gelernt, vor allem auch, was ich will und was ich nicht will. Er war letztendlich ein Lehrer für mich, der es zugelassen hat, dass man Meinungen diskutiert. Das war bei Kämmerling anders, auch wenn er mir wirklich als Meister der Technik alle Grundlagen beigebracht hat. Aber diskutiert wurde dort eine andere Ansicht nicht.“
Martha Argerich in Pacinis Leben
Aber wenn sie sagt, dass Martha Argerich in ihr Leben getreten ist, was bedeutet das und wie passierte es? „Durch Zufall. Ich war mit meinen Eltern im Urlaub in der Heimat meines Vaters, in der Toskana. Dort gibt es einen kleinen Ort am Meer, der heißt Pietrasanta. Dort fand 2010 zum ersten Mal ein Festival statt, in dem Martha das Eröffnungskonzert spielte. Ich war schon eine große Bewunderin von ihr, seit ich pianis-tisch denken konnte. Als sie in der Philharmonie in München einmal ein Konzert spielte, bin ich auch nach dem Konzert zu ihr gegangen. Ich habe allerdings kein Wort rausgebracht, da ich so aufgeregt war.“ Als sie in Pietrasanta ihrem Vater sagte, sie wolle Martha Argerich kennenlernen, wusste dieser sich nicht anders zu helfen, als über seine Freundeskontakte bis zum Intendanten des Festivals vorzudringen, der der jungen Sophie sagte, sie solle sich einfach in die Lobby von Martha Argerichs Hotel setzen und warten, ob sie vorbeikäme. Nach einigen Stunden des Wartens war sie allerdings immer noch nicht erschienen. „Dann habe ich mir erlaubt, auf dem Flügel zu üben, der extra im Wintergarten aufgestellt worden war. Ich dachte, wenn sie mich spielen hört, wird sie schon aufmerksam werden. Sie kam also herunter aus ihrem Zimmer und war sehr schlecht gelaunt und wollte von mir nichts wissen, auch wenn der Intendant des Festivals mich angekündigt hatte.“ Pacini setzte sich wieder in die Lobby und wartete. Als sie sie dort wieder sitzen sah, wusste sie, dass sie sie nur loswerden würde, wenn sie erlaubte zu spielen. „Da fragte sie also: Was willst du spielen und dachte sicherlich, dass ich vollkommen irre sei, da ich ihr sagte, ich wolle die h-Moll-Sonate von Liszt spielen. Sie erlaubte es. Ich setzte mich an den Flügel und hatte das erste Mal das Gefühl, ich spiele um mein Leben. Ich wusste, diese Chance erhalte ich nicht noch einmal. Meine Nervosität hat sich in solch eine starke Energie umgewandelt, dass Martha ausrief, dass dies ‚fantastisch‘ wäre. Sie fragte: Was kann ich für dich tun. Ich sagte, dass ich sie nur kennenlernen wollte. Sie aber meinte, dass sie einrichten wolle, dass ich in Lugano in ihrem Festival spielen solle. Dann schlug sie vor, dass wir eine Cola zusammen trinken. Seit dieser Zeit sind wir befreundet, treffen uns immer wieder einmal. 2019 fragte sie mich dann das erste Mal, ob ich mit ihr im Duo spielen möchte.“ Ein Glücksfall, doch Pacini ist es wichtig zu klären, dass sie diese Art der freundschaftlichen Beziehung zu der berühmten Pianistin nie ausgenutzt hat. „Ich habe sie nie nach irgendetwas gefragt oder sie um irgendetwas gebeten. Und letztendlich ist es auch so, dass sie einen zwar empfehlen kann, aber die Türen für die eigene Karriere, die kann man nur selbst öffnen. Natürlich kann sie eine Art Gütesiegel sein, aber ich wollte nicht immer unter dem Flügel des Namens Martha Argerich fliegen.“
Dennoch taucht der Name Martha Argerich im-mer in Zusammenhang mit Sophie Pacinis Biografie auf, ist das dann nicht störend? „Der Name Martha Argerich wird immer von anderen verwendet, er ist nun einmal ein Gütesiegel, und ich werde immer darauf angesprochen.“ Hat sie denn Pacini irgendwann eine Art von Unterricht gegeben? „Nein, sie spielt mir eher etwas vor und fragt mich nach Tipps. Ich bin dann in einer gehemmten Position. Aber sie verlangt eine Reaktion von mir und fordert mich dann auf, dass ich das Stück spiele, das sie mir vorgespielt hat. Erst dann sagt sie etwas.“ Letztendlich ist es ein Austausch zwischen zwei Pianistinnen, die sich freundschaftlich verbunden fühlen.
Allerdings hat Argerich Pacini dann bei ihrem ersten Chopin-Album beraten. „Ich habe damals das Fantaisie-Impromptu aufgenommen und war verunsichert bei einigen Passagen. Sie empfahl mir dann die Ausgabe von Jan Ekier, in der ich eine Lösung fand. Aber vor allem hat sie viele Anekdoten zu erzählen, berichtet mir von ihren Erfahrungen auf der Bühne. Das hilft mir wirklich. Und von Anfang an sagte sie mir, dass ich auf mein eigenes Bauchgefühl hören soll und an meine ‚Handschrift‘ glauben soll. Ich sollte also versuchen, mich nicht verbiegen zu lassen.“ Dieses Credo hat Pacini eingehalten. „Das ist nicht immer einfach, auch in der Politik mit Plattenfirmen und Agenturen. Aber das musste ich ihr versprechen.“
Repertoire und CDs
Es scheint so, dass das klassisch-romantische Kernrepertoire den Schwerpunkt von Sophie Pacinis Wirken ausmacht. Sie bejaht und fügt hinzu, dass sie in der letzten Zeit auch viele Werke von Schostakowitsch spiele. Lag dieser Schwerpunkt auch an den Lehrern? „Die Liebe zur Musik von Chopin gab es schon sehr früh. Diese Musik war für mich immer eine Art von Alltagsfilter.
Den gesamten Artikel lesen Sie in Ausgabe 3-2023 von PIANOenws.
PIANONews 4 / 2023
Es ist die Aufgabe unserer Zeit diese Musik zu spielen
Frank Dupree
... und die Klavierkonzerte von Nikolai Kapustin
Von: Carsten Dürer
Das letzte Mal haben wir den deutschen Pianisten Frank Dupree 2015 in PIANONews vorgestellt. Damals war er mit seinen 23 Jahren noch ein Newcomer, den noch nicht so viele Klavierfreunde kannten. Mittlerweile hat sich in seiner Karriere viel getan, Er hat nicht nur sein Repertoire erweitert, sondern hat sich auch anderen Genres wie dem Jazz zugewandt und dirigiert immer häufiger. Seit einiger Zeit beschäftigt er sich zudem intensiv mit dem Klavierwerk von Nikolai Kapustin, vor allem mit dessen Klavierkonzerten. Wir trafen Frank Dupree am Vormittag eines Konzerts, das er im Dortmunder Konzerthaus gab. Er leitete die Dortmunder Philharmoniker mit eher unbekannten Werken von Paul Dukas, Claude Debussy und Darius Milhaud. In der zweiten Hälfte des Programms standen dann Werke von Miles Davis und Gil Evans für Trompete und Orchester auf dem Programm. Auch hier ein Brückenschlag zwischen unterschiedlichen Genres.
Programm als Experiment
Sofort kommen wir auf das Programm der beiden Konzerte in Dortmund zu sprechen. Wie kam der erste Abend beim Publikum an? „Ja, da habe ich ein Experiment gewagt mit den Préludes von Debussy. Ich habe mit dem 1. Prélude „Danseuses de Delphe Lent et grave“ solo am Klavier. Nach den ersten sechs Takten hat dann das Orchester genau an dieser Stelle fortgesetzt. Das ist auch für das Publikum spannend.“ Die Orchesterbearbeitung stammt von dem englischen Komponisten Colin Matthews. „Das habe ich dann kombiniert mit Bearbeitungen von Hans Zender, der ja auch mein Dirigierprofessor zwischen 16 und 18 war. Deshalb kenne ich auch diese Bearbeitungen von ihm. Diese beiden Versionen wurden dann immer wieder kombiniert mit komplett solistisch von mir gespielten Préludes.“ Der Flügel steht in diesem Fall – denn Dupree dirigiert und spielt – mit dem Ende zum Orchester hin, ohne Flügeldeckel. Dupree sagt: „Das funktioniert zum Glück in diesem Saal klanglich gut“, und deutet damit an, dass der Flügelklang in anderen Sälen dann leicht verloren geht. Selbst Darius Milhauds als Cinéma-Fantaisie ausgewiesenes Orchesterwerk „Le bœuf sur le toit“ hat Dupree verändert, denn er hat noch ein Schlagzeugset hinzugefügt: „Ich fand, der Groove des lateinamerikanischen Rhythmus setzt bei Milhaud immer wieder einmal aus. So hat mein Schlagzeuger aus meinem Jazz-Trio, Obi Jenne, diesen Part übernommen. Und in der zweiten Hälfte gab es dann Miles Davis’ „Sketches of Spain“, komplett ohne Streicher. Das Gute ist, dass der Trompeter Simon Höfele das wirklich gut gestalten kann.“ Er erwähnt noch, dass dieses von Miles Davis für Schallplatte 1960 aufgenomme Programm niemals von Davis selbst live gespielt wurde. „Das hat natürlich mit Klassik gar nichts mehr zu tun, aber die Stimmung und die Atmosphäre ist unglaublich – etwas Losgelöstes. Es ist selten, dass etwas so gut klappt, wenn so viele Leute auf der Bühne sind, dass man wirklich sagt: Das war Klasse!“
Hat Dupree das Gefühl, dass zu solchen Konzerten innerhalb einer Abonnement-Reihe auch ein anderes Publikum kommt? „Ja. Wir haben nach dem Konzert im Foyer des Konzerthauses mit unserem Jazz-Trio noch eine Jam-Session gespielt. Und bei den Gesprächen danach kamen Leute an und sagten, dass sie speziell für Miles Davis’ „Sketches of Spain“ gekommen sind, da sie es noch nie live gehört hatten. Das bedeutet, es gibt Kenner, die dann speziell für solche Werke kommen. Das ist toll. Und trotzdem sitzen diese Leute da und hören sich auch den Debussy an.“ Er hat lange an diesem Programm gearbeitet, sagt er. „Ich hoffe immer, dass solch ein Programm dann auch eine Klangerfahrung für das Publikum, eine Erfahrung mit Musik darstellt, die besonders ist.“
Experimente sind nicht immer gewünscht
Doch diese Art von experimentellen Konzerten ist nicht der alleinige Anspruch von Dupree, oder? „Auch deshalb nicht, da es oftmals nicht gewünscht ist. Auch manches Mal, da es oftmals wegen der Besetzung nicht geht. Wenn ein Kammerorchester anfragt, ein Programm ohne Jazz-Trio, ohne Trompete und Bläser zu gestalten, dann muss man schauen, was möglich ist. So viel es im Repertoire auch gibt, man muss sehen, was man machen kann, wenn die Bedingungen von außen vorgegeben werden.“ Also gibt es auch durchweg „klassische“ Programme von Dupree. „Ja, in jedem Fall“, ruft er fast aus. „Ich spiele bald Beethovens 3. Klavierkonzert, kombiniere das dann mit Britten und neuen Werken für Kammerorchester. Zu-dem werde ich dann auch ein Schlagzeugduo spielen.“ Das geht, da Dupree ursprünglich Schlagzeug ge-lernt hat, bevor er sich erst dem Klavier und dann dem Dirigieren zugewandt hat. „Es wird also schon immer wilder und verrückter mit den Programmen“, gibt er lachend zu.
Momentan scheint es so, dass viele junge Interpreten und Musiker nach einem eigenen Weg suchen, ohne dabei die großen Komponisten der Vergangenheit zu negieren. „Das darf man ja auch. Man muss vielleicht nicht in jedem Konzert einen Mozart oder Beethoven integrieren, da es halt Komponisten wie Milhaud oder Dukas gibt. Und vor allem, weil es Stücke gibt, die keiner spielt und die nirgendwo auf die Bühne kommen. Die Kunst liegt darin, sowohl das Orchester sowie die Veranstalter zu überzeugen: Und da sind wir dann auch bei Nikolai Kapustin …“
Nikolai Kapustin
„Für mich ist Kapustin wirklich die Entdeckung – auch wenn ich ihn ja nicht entdeckt habe. Aber in Europa bin ich momentan einer der wenigen – wenn nicht der Einzige –, der seine Klavierkonzerte aktiv im Konzert spielt. Ich weiß, dass es gute Musik ist. Das 4. Klavierkonzert habe ich nun auch schon zehnmal gespielt, und das Publikum ist danach begeistert.“ Das ist ja auch schon bei den Solo-Kla-vierwerken der Fall: Es erklingt Musik, die so keiner erwartet – es ist eine neue Erfahrung. „Ja, wir haben vor einem Monat das 4. Klavierkonzert in Chemnitz gespielt. Es war das letzte Werk auf dem Programm – zuvor hatten wir einige europäische Erstaufführungen gespielt, es war also ein sehr durchmischtes Programm. Und nach Kapustin mussten wir drei Zugaben spielen, da das Publikum uns nicht mehr von der Bühne ließ. Diese Energie, die in der Musik Kapustins steckt, überträgt sich um ein Vielfaches auf das Publikum. Das erzähle ich natürlich auch jedem Veranstalter. Aber dennoch ist Kapustin kein Name, mit dem man den Konzertsaal sofort ausverkauft.“
Das gesamte Porträt von Frank Dupree lesen Sie in der Ausgabe 4-2023 von PIANONews.
PIANONews 5 / 2023
Violina Petrychenko
Aus Liebe zur Heimat
Von: Marco Frei
Nur wenige setzen sich derart intensiv und beharrlich mit dem ukrainischen Musikerbe auseinander wie Violina Petrychenko. Die gebürtige Ukrainerin lebt in Deutschland und hat seit 2014 viele Werke vergessener Komponisten auf CD dokumentiert, darunter zahllose Ersteinspielungen. Nun ist ihre vierte CD erschienen: „Mrii – Ukrainische Hoffnung“. Was ist ihre Mission? Wir trafen sie in Stuttgart, wo sie im Haus der Heimat des Landes Baden-Württemberg konzertierte.
PIANONews: Frau Petrychenko, wie geht es Ihren Eltern in Saporischschja?
Violina Petrychenko: Den „Umständen entsprechend“, wie man so schön sagt. Sie sind vorsichtig optimistisch. Meine Mutter war zwei Monate bei mir in Köln und wollte wieder zurück nach Hause. Mein Vater kann allein die Frage nicht mehr hören, wann er kommt. Er bleibt zu Hause, weil er sagt: Wie kann ich in dieser schweren Zeit mein Heimatland verlassen? Er ist sehr patriotisch. Mein Vater musiziert, arrangiert, dirigiert, arbeitet eifrig mit seinem Orchester für ukrainische Volksmusik. Er hat das sein ganzes Leben gemacht und möchte damit nicht aufhören. Das finde ich mit 73 Jahren ganz wunderschön. Mein Bruder und ich, wir waren anfangs total fertig, dass sie dort vor Ort bleiben wollten. Jeden Tag haben wir versucht, sie zur Ausreise zu überreden. Sie möchten einfach zu Hause bleiben, und das müssen wir akzeptieren.
PIANONews: Das klingt sorgenvoll.
Violina Petrychenko: Ich glaube, dass meine Eltern selber gar nicht wissen, wie belastend die Situation für sie ist – physisch und psychisch. Ich war vier Tage bei ihnen, auch um zu konzertieren. Als ich wieder bei mir zu Hause in Köln war, bin ich nachts aufgewacht, weil es stark geregnet hatte. Ich dachte, dass sei ein Raketenangriff, und ich war nur vier Tage dort. Wie ergeht es Menschen, die jetzt schon über anderthalb Jahre mit dieser Situation leben?
PIANONews: Sie haben sich schon früh mit ukrainischer Musik beschäftigt. Durch den Krieg ist dieses Thema wichtiger geworden. Was sagen Sie Menschen, die das nicht mehr hören können?
Violina Petrychenko: Ich kann das verstehen, aber auf mich bezogen ist es ja keineswegs so, dass ich nur diese Musik pausenlos zelebriere. Außerdem beschäftige ich mich mit ukrainischer Musik, um die andere, unbekanntere Seite meines Landes zu zeigen. Es geht die ganze Zeit nur um Krieg und Politik. Das ist sehr wichtig, aber: Die Kunst und Kultur der Ukraine sind weitestgehend unbekannt. Ich möchte aufzeigen, dass wir ein Land sind mit einer langen Geschichte, das kulturell viel zu bieten hat – auch nach dem Krieg.
PIANONews: Manche Ihrer Kollegen scheinen gegenwärtig auf einen PR-Zug aufzuspringen, um mit ukrainischer Musik Aufmerksamkeit für sich selber zu erzielen. Ich finde das furchtbar zynisch.
Violina Petrychenko: Ich kann Ihren Unmut sehr gut verstehen. Mich ärgert es genauso, wenn heute plötzlich alle möglichen Leute auf dieses Thema aufspringen – als ob sie aus dem Leid der Menschen Kapital schlagen wollen. Für mich ist das absolut inakzeptabel. Viele Musiker „entdecken“ erst jetzt dieses Feld für sich, wollen die Musik der Ukraine bekannter machen, aber wo waren sie vor acht Jahren und vor der Annexion der Krim? Da fällt es mir schwer, eine echte Mission zu erkennen – ein Herzensanliegen.
PIANONews: Sie selber haben sich bereits am Musikgymnasium Saporischschja, wo Sie Klavier und Musikwissenschaften studiert haben, mit ukrainischer Musik beschäftigt. Die Beihefte zu Ihren CDs verfassen Sie selbst.
Violina Petrychenko: Nach meinen Studien war es mein Wunsch, die Musik aus der Ukraine auch selber gezielt zu pflegen und zu fördern. In meiner Heimat hatte ich das als Studentin bereits gemacht, aber in Deutschland, wo ich seit 2007 lebe, kannte niemand diese Musik. Also habe ich begonnen, in Konzerten auch Werke von Viktor Kosenko zu spielen, und dann kam 2014 die Annexion der Krim. Bei der Idee, Kosenko mit Alexander Skrjabin zu koppeln, ging es mir nicht um politische Fragen, sondern vor allem darum, diese Musik im Westen bekannter zu machen. Gleichzeitig ist das eine Verbindung zu meinem Land, die mir selber in der jetzigen Situation viel Energie, Ruhe, Zuversicht und Hoffnung gibt – dass alles gut wird irgendwann.
Das vollständige Interview mit Violina Petrychenko lesen Sie in der Ausgabe 5-2023 von PIANONews.
PIANONews 6 / 2023
Cédric Tiberghien
Plädoyer für den Wandel
Von: Marco Frei
Schon vor rund 20 Jahren hatte er beim Label Harmonia Mundi eine Aufnahme vorgelegt, die das Gestaltungsprinzip der Variationen Beethovens reflektierte. Nun hat Cédric Tiberghien eine umfassende Trilogie mit insgesamt sechs CDs gestartet, die die Variationen-Zyklen von Beethoven in einen zeitlich und stilistisch größeren Kontext rücken: von der Renaissance bis in die Gegenwart. Der Auftakt ist bereits erschienen, am 12. Januar 2024 soll der zweite Teil folgen. Was steckt dahinter? Zum Gespräch wurde Ende Mai nach Berlin geladen, wo der französische Pianist mit den Berliner Philharmonikern unter Simone Young die „Turangalîla-Symphonie“ von Olivier Messiaen gestaltete.
PIANONews: Herr Tiberghien, was möchten Sie mit der Variationen-Trilogie ausdrücken?
Cédric Tiberghien: Es geht mir um die Art und Weise, wie man auf ein musikalisches Objekt blickt. Das war im Kern der Sinn dieses Projekts. Wenn man ein musikalisches, klingendes Objekt hat, kann man es auf eine bestimmte Weise betrachten – wie auch in der Skulptur oder Malerei. Man kann es umdrehen, von oben betrachten, aus der Ferne oder von sehr nah. Dadurch ändert sich stets die Perspektive. Das ist sehr spannend, weil man Details in den Fokus rücken kann oder das Ganze. Beides ist spannend, eröffnet aber völlig andere Wahrnehmungen – und einen neuen, anderen Sinn des Werks. Man erhält jeweils andere Informationen über ein und dasselbe Werk. Genau das lebt im Grunde die Variation, und das wollte ich mit einem breiten Publikum teilen.
PIANONews: Sie möchten generell den Bogen von der Alten zur Neuen Musik spannen. Der Auftakt koppelt jedoch Beethoven mit Wolfgang Amadeus Mozart und Robert Schumann und endet mit Anton Webern. Wieso?
Cédric Tiberghien: Weil Anderes bald folgt. Es konnte nicht schon im aktuellen Band erscheinen, weil ich eine Auswahl treffen musste. Für die ersten zwei CDs wollte ich unbedingt die „Eroica-Va-riationen“ von Beethoven integrieren. Es ist für mich persönlich ein sehr wichtiges Werk. Als Teenager hatte ich bereits damit begonnen, mich mit diesem Zyklus auseinanderzusetzten. Es ist für mich gewissermaßen das Zentrum von allem.
PIANONews: Mit welcher Konsequenz?
Cédric Tiberghien: Die erste der zwei CDs dieses Auftakts ist gewissermaßen freundlich, weil ich die „Eroica-Variationen“ mit weiteren Variationen von Beethoven sowie Mozart kopple – bekannte Werke. Für die zweite CD des Doppelalbums gefiel mir die Variations-Etüde von Schumann über das Thema aus dem zweiten Satz der Sinfonie Nr. 7 von Beethoven sehr gut. Das ergab für mich sehr viel Sinn und war reizvoll, und zu Schumann passt für mich Webern. Ich liebe seine Variationen
Op. 7 …
PIANONews: … Die inzwischen auch schon über hundert Jahre alt sind.
Cédric Tiberghien: Ja, das ist keine zeitgenössische Musik mehr, aber manche Menschen fürchten sich noch immer etwas davor. Als ich dieses Werk einmal im Konzert gespielt hatte, stand in einer Kritik: „Über den Webern schreibe ich nicht, weil ich das Stück nicht wirklich leiden kann.“
PIANONews: Wie bitte? Dieses reaktionäre Urteil kann nur aus den USA oder Großbritannien stammen.
Cédric Tiberghien: Nein, das war in Frankreich. Auch deswegen wollte ich unbedingt diesen Webern auf der ersten Doppel-CD haben. Ja, es war nicht einfach zu entscheiden, in welcher Reihenfolge dieser erste Teil stehen und was er überhaupt beinhalten sollte. Ich wollte, sozusagen, ein starkes Eingangstor. Der folgende zweite Teil wird herausfordernder.
PIANONews: Nämlich?
Cédric Tiberghien: Er wird den niederländischen Renaissance-Meister Jan Pieterszoon Sweelinck beinhalten, auch Johann Sebastian Bach, aber nicht die „Goldberg-Variationen“, sondern die „Aria variata“ BWV 989. Ich möchte damit aufzeigen, was die Variation vor Beethoven war. Natürlich ist das ein weites Feld, aber ich wollte die Tasten-Virtuosität demonstrieren. Ich hatte auch an William Byrd gedacht oder Orlando Gibbons, aber Sweelinck und Bach fand ich dann doch besser. Es zeigt, wie sehr Beethoven von diesen virtuosen Handschriften beeinflusst war: wie eine im Grunde kurze Sequenz stets in anderem Gewand wiederholt wird. Auf der zweiten CD des zweiten Teils sind zudem George Crumb, Morton Feldman und John Cage vertreten.
PIANONews: Das haben Sie auch schon in Berlin im Konzert gemacht.
Cédric Tiberghien: Richtig. Mir ist wichtig, dass es eben nicht nur um Werke geht, die explizit Variation im Titel heißen. Es geht vielmehr um die Idee, was Variationen sind. Bei Feldman gewinnt man zum Beispiel schnell den Eindruck, dass jede einzelne Note die vorige variiert oder gar die Stille. Oder nehmen Sie die wiederholten Noten bei Crumb: Es ändern sich stets kleine Details. Man mag diesen Wandel nicht unmittelbar wahrnehmen, aber er ist allgegenwärtig – fast schon wie eine akustische Illusion. Ich mag das sehr, und dasselbe gilt für „In a Landscape“ von Cage. Er nutzt stets dieselben sechs Noten und erschafft doch einen Fluss, der sich ständig ändert. Für mich war dies gewissermaßen die amerikanische Art, mit dem Prinzip der Variation umzugehen.
PIANONews: Trotzdem dreht sich bei Ihrer Variationen-Trilogie alles um Beethoven.
Cédric Tiberghien: Er steht im Zentrum, auch weil er im Grunde wie ein zeitgenössischer Komponist heute arbeitet. Er nimmt die Musik quasi wie ein Objekt und bearbeitet es wie eine Skulptur. Ich wollte die Hörenden gewissermaßen in seine Küche des Komponierens führen. „Kommt und schaut, wie das gemacht ist.“ Dafür muss ich auch Vor- und Ausblicke integrieren, die dazu passen.
PIANONews: Wobei im ersten Teil die ebenfalls vertretenen „Geister-Variationen“ von Schumann im Grunde noch zeitgenössischer wirken als Beethoven, zumal sich viele lebende Komponisten mit ihnen beschäftigt haben. Man denke nur an Heinz Holliger oder Salvatore Sciarrino.
Das gesamte Interview mit Cédric Tiberghien lesen Sie in der Ausgabe 6-2023 von PIANONews.