Diskrepanz zwischen Hörer und Interpret

Liebe Klavierfreundinnen und -freunde,

als Hörer von Klaviermusik sind wir heutzutage- wie in vielen Bereichen des täglichen Lebens – vollkommen von Traditionen und Gewohnheiten eingenommen. Wenn nun ein Interpret ein Werk neu überdenkt, einige ansonsten selten zu hörende Linien im Konstrukt einer Komposition stärker herausstellt als der Zuhörer es gewohnt ist, läuft er Gefahr die Aufmerksamkeit des Zuhörers zu verlieren, da er sie beispielsweise nicht mehr mit den gewohnten Melodielinien leitet. Dieses absurde Moment des Erkennen-Wollens von bereits Gehörtem ist gerade in weniger aufmerksamen Augenblicken (wie in einem Konzertabend nach einem anstrengenden Arbeitstag) gegeben. Das Sich-Öffnen für neue Ansichten hundertfach gehörter Werke ist allerdings für jeden engagierten Pianisten eine Herausforderung und eigentlich eine selbstverständliche Aufgabe. Dennoch ist dies ja auch von allen Zuhörern nach vielen Jahren des Hörens eine ebenso große Herausforderung – auch und besonders eine intellektuelle. Aber es ist nun einmal eine Gradwanderung zwischen der Möglichkeit Grenzen zu überschreiten, die einmal in der Tradition erreicht wurden und der Strukturierung, die den Hörer in Bezug auf den dramatischen Verlauf und Prozess in einem Werk leitet. Immerhin stellt genau dies das wichtigste formale Element des Kernrepertoires der Klassik und Romantik dar.

Wenn neue Konzeptideen aufkommen muss diese innere dramatische Struktur immer noch erhalten bleiben, will der Interpret nicht allein als „interessant“ abgetan werden.

Dennoch wollen wir als Zuhörer immer wieder bekannte Werke als neu entdecken, willen aber auch wiedererkennen und vom Pianisten gedanklich und emotional geleitet, an die „Hand genommen“ werden.

Während der Pianist sich mit seinem Konzept langwierig beschäftigt, es ausgefeilt hat, muss der Zuhörer eine neue Idee sofort erkennen, aufnehmen, verarbeiten und begreifen. Und genau da klafft oftmals eine Diskrepanz, die großes Klavierspiel von weniger großem unterscheidet. Aber ohne neue Ideen und Konzepte bestehender Werke bleiben auch wir als Zuhörer stehen und werden auf Dauer von dem eingeebneten Alltagsspiel gelangweilt sein.

Wir müssen also immer selbst auch das Gehörte mit überdenken, es auf uns emotional und intellektuell wirken lassen, uns fragen, warum es anders klingt und was daran Sinn oder Unsinn ist. Auf diese Weise bleiben die großen Werke der Klaviermusik immer lebendig – auch wenn man vielleicht nicht immer zu einem einvernehmlichen Schluss kommt, warum die eine Interpretation eines Werks einen mehr gefangen nimmt, als eine andere.

Image