Die zentralen Werke

Liebe Klavierfreundinnen und -freund,

immer wieder wird von den zentralen Werken des Klavierrepertoires gesprochen. Und natürlich kann man diese an der Vielzahl an Aufführungen festmachen. Allerdings ist dies ein wirklich eigenwilliges Kriterium. Die Frage ist doch letztendlich: Was sind eigentlich die „zentralen Werke“ im Klavierrepertoire. Immerhin hat sich genau dieses Denken immer wieder in Geschichte verschoben. Waren es sicherlich zu allen Zeiten die großen zyklisch angelegten Werkfolgen von Johann Sebastian Bach oder die Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven, so sind es heute auch die späten Klavierwerke von Liszt, Chopin, einige Werke von Brahms und Schumann oder Mozart. Doch ist das wirklich das Zentrale im Klavierrepertoire? Wenn man schaut, wie viele interessante Werke allein in den vergangenen 20 Jahren dem Vergessen entrissen wurden oder neu für das Klavier entstanden sind, dann stellt sich die Frage, ob diese nicht auch längst zum zentralen Bestandteil des Repertoires avanciert sind. Doch es gibt Hindernisse, diese Klavierwerke zentral werden zu lassen: Lehrer an Hochschulen beschäftigen sich nicht damit und lehren diese Werke kaum. Sie wollen Beispiele? Wie sieht es mit den so wichtigen Sonaten von Carl Philipp Emanuel Bach aus, oder den neben den zahllosen Klavierschul-Werken entstandenen Klavierstücken von Carl Czerny, wie mit Burgmüller, mit Moritz Eggerts Klavierstücken oder mit den soeben wieder in das Bewusstsein geratenen Klavierwerken von Joseph Woelfl. Wären die nicht auch – und auch aufgrund ihrer Stellung in ihrer Zeit und für die Entwicklung der Klaviermusik allgemein – zu den zentralen Werken zu zählen? Warum also passiert es nicht, warum sind die Klavierwerke von Dmitri Schostakowitsch immer noch weniger gespielt, als die von Prokofiew? Nun, zum einen wollen viele Veranstalter lieber die Werke auf die Bühne bringen, von denen sie überzeugt sind, dass das Publikum sie kennt. Und so wird beständig das wiederholt, was als „zentral“ gilt. Und auch im Unterricht werden diese Werke immer wieder angeregt einzustudieren, da sie ja das „Zentrale Repertoire“ betreffen.

Was passiert dadurch? Nun, zum einen wird der Eindruck erweckt, dass bestimmte Klavierwerke „besser“ als andere sind, zum anderen wird die immense Bandbreite des Klavierrepertoire, das wir vorliegen haben, auf ein Minimum reduziert (zumindest bei CD-Einspielungen und im Konzertsaal).

Das soll nicht heißen, dass sich nicht bestimmte Interpreten und Labels gerade diesem „unbekannteren“ Terrain der Klaviermusik widmen. Aber die Allgemeinheit sieht den Gipfel der Klaviermusik bei Bach, Beethoven, Mozart, Chopin und Liszt erreicht und hinterfragt nicht immer die Qualität der einzelnen Werke. Denn nicht alles ist gleich gut und gleich hochwertig komponiert. Auch diese Großen waren Momenten des Drucks unterworfen, das Werke einmal weniger gut gelingen ließ (ohne dass hier die Gesamtqualität abgewertet werden soll!).

Was fehlt, ist eine Überprüfung des sogenannten Klavier-Kanons, der immer wieder in Buchformen aufgesetzt wird, eine Neuorientierung, wenn es um den Begriff der „zentralen Werke“ geht oder eine bessere Definition wie „Zentrale Werke der klassischen und romantischen Periode der Musikgeschichte“. Nur auf diese Weise werden wir uns stärker im Klaren darüber, dass es weit mehr als dieses Repertoire gibt.

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