Die Parallelwelt der Klavierinterpretation

Liebe Klavierenthusiastinnen und -enthusiasten,

liebe Klavierstudentinnen und -studenten,

ja dieses Mal spreche ich einfach alle zu einem immerwährenden Thema an: die internationalen Klavierwettbewerbe. Ja, den ersten führte Anton Rubinstein durch, in St. Petersburg. Als dann in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die ersten internationalen Klavierwettbewerbe gegründet wurden, war man begeistert, auf diese Weise eine Ansammlung von hochtalentierten, jungen Pianisten an einen Ort zu holen, um sie spielen zu lassen und die besten fördern zu können. Damals begeisterten sich auch große Künstler für die Jurorentätigkeit, Pianisten wie Arturo-Benedetti Michelangeli, Arthur Rubinstein oder Emil Gilels saßen da in den Jurys und hörten den jungen Pianisten zu. Irgendwann kam es dann dazu, dass gewiefte und geschäftstüchtige Professoren und Klavierfreunde erkannten, dass zum einen im Wettbewerbszirkus bei immer mehr ausgebildeten Klavierstudenten in aller Welt Geld zu machen ist. Zum anderen konnten die Direktoren und Verantwortlichen sicher sein, dass sie – wenn sie nur die richtigen Juroren einluden – auch selbst wieder eingeladen würden. Schnell hatte sich eine gierige Mannschaft von Professoren gefunden, die die Wettbewerbswelt für Klavier beherrschte – eine Gruppe, der man zutraute, dass sie die beste Interpretation bei einem musikalischen Wettstreit herausfinden könne. Die Parallelwelt – parallel zu Studium und Realität – nahm ihren Lauf. Und schnell machte sie sich selbstständig und erweiterte sich immer mehr. Die sogenannten internationalen Klavierwettbewerbe schossen aus dem Boden wie Pilze nach einem warmfeuchten Spätsommer im Wald. Mittlerweile sind es so viele, dass man kaum mehr den Überblick hat – auch deshalb, da es solche gibt, die nur einmal stattfinden, und davon immer mehr.

Mittlerweile hatte diese parallele Welt, in der sich Professoren und Studenten tummelten, die kaum mehr Zeit für das normale Studium aufbrachten, einen anrüchigen Ruf erhalten. Es gab junge Pianisten, die von einem Wettbewerb zum anderen zogen, ohne sich um ihre tatsächliche Laufbahn zu kümmern, und die – selbst nach etlichen Gewinnen – wieder verschwanden, nachdem sie die Altersgrenze aller Wettbewerbe erreicht hatten.

Nun ist es seit Jahren vielen neuen Direktoren solcher Wettbewerbe wichtig, dass der frühere Ruf einer fördernden Einrichtung „Wettbewerb“ wieder an Ansehen gewinnt und haben entsprechend die Jury-Zusammensetzungen ebenso verändert wie die Bedingungen. Heute sind Wettbewerbe ein Mittel, sich einem breiten Publikum vorzustellen. Dennoch fallen immer noch einige Studenten darauf herein, dass man mit dem einmal erlernten Repertoire von Wettbewerb zu Wettbewerb tingeln kann, um vielleicht doch einmal das große Los zu ziehen und einen großen Gewinn zu erhalten. Doch genau da ist die Parallelwelt noch intakt – aber es bleibt eine parallele Welt, die nur in kleinen Schnittmengen etwas mit der Realität zu tun hat. Erst wenn man über eine Wettbewerbsteilnahme auch seine eigene Laufbahn angekurbelt hat, in der realen Konzertwelt, hat man es geschafft, dass diese Parallelwelt ins Reale Auswirkungen hatte.

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