Pianonews 05 /2002

Vom Sagbaren und Unsagbaren

Interview mit Pierre-Laurent Aimard

Von: Manfred Müller


Bislang galt Pierre-Laurent Aimard vornehmlich als Experte zeitgenössischer Musik. Doch der Franzose setzt auch im klassischen Fach Akzente. Mit Nikolaus Harnoncourt und dem Chamber Orchestra of Europe erarbeitet er zurzeit eine Gesamteinspielung von Beethovens Klavierkonzerten. Der Spezialist für Neue Musik und der Vorreiter der historischen Aufführungspraxis, eine nur scheinbar disparate Paarung, die im Streben nach Klangkultur und Ausdruckstiefe eine stimmige Einheit bildet.

 
PIANONews: Monsieur Aimard, Nikolaus Harnoncourt nannte Sie in einem Interview "eine Mischung aus interpretatorischem Genie und Wahnsinn". Was wird er wohl damit gemeint haben?

Pierre-Laurent Aimard: Oh, wirklich? [lacht] Ich weiß nicht. Ich denke er hasst genau wie ich die Interpretation als bloße Kopie eines Modells. Für ihn ist Interpretation eine Wiedergeburt. Ein immer wieder neues Nachdenken und Nachempfinden, mit allen möglichen Risiken. Vielleicht ist das eine Dimension von Wahnsinn. Der Moment auf der Bühne muss eine Wahrheit haben, die an eine Grenze geht, sonst wäre es ja ein Akt des Alltäglichen.

PIANONews: Sie galten bislang eher als Spezialist zeitgenössischer Musik. Nun machen Sie gleich einen kompletten Beethoven-Zyklus.

Aimard: Der starke Akzent auf zeitgenössischer Musik rührt bei mir daher, dass sich so wenig Kollegen damit beschäftigt haben. Da war es eine Aufgabe, das zu machen. Und es ist natürlich auch ein Problem der Etikettierung. Eine Auseinadersetzung mit Beethoven und anderen Komponisten hat es für mich immer gegeben. Ich wollte nie ein Spezialist für Neue Musik sein, wie man sie in der Avantgarde gelegentlich findet. Trotzdem wäre mir nie in den Sinn gekommen, einen Beethoven-Zyklus zu machen. Da gibt es so viele gute Aufnahmen. Den Ausschlag gab, dass Harnoncourt mir dieses Projekt angetragen hat. Mit ihm zu musizieren, das ist ein Traum. Mit ihm kann es nie die 100. Version von etwas werden, sondern immer etwas eigenes.

PIANONews: Seit wann arbeiten sie an diesem Projekt?

Aimard: Seit 2000. Und es ist schön, dass wir uns die Zeit nehmen. Drei Jahre für das ganze Projekt. Nicht das komplette Paket innerhalb einer Woche, wie es heute in dem Geschäft üblich ist. Wir haben wirklich Zeit zu diskutieren und die Arbeit vorzubereiten. Ich fliege immer mal nach Österreich oder wo er sich gerade aufhält, ich spiele und wir diskutieren. Das entwickelt sich ganz natürlich. Die Musik bestimmt den Rhythmus, nicht das Business.

PIANONews: Ein Kritiker schrieb, Hanoncourt habe bei der Zusammenarbeit mit Ihnen wohl eine Mischung aus Habsburger Universalität und französischem Noveau Chic im Sinn. Worum geht es Ihnen?

Aimard: [lacht] Die Frage ist, ob dieses unerwartete Gespann aus Österreich und Frankreich in Beethovens Bonn eine Mitte findet. Ich habe eine ganz andere Antwort: ich war zunächst sehr überrascht von Harnoncourts Angebot. Aber die größte Überraschung war, wie einfach und direkt er war. Es gab keine Aprioris, er war völlig offen. Nicht: ich mache mein Beethoven-Projekt und das geht soundso. Auch im Konzert, Sie können immer etwas Neues vorschlagen, kleine Tempoänderungen, neue Stimmungen, sofort nimmt er das auf und reagiert darauf. Ein Traum.

PIANONews: Nun gilt Hanoncourt doch als ein programmatischer Kopf, er wird nicht ohne Konzept an ein solches Projekt gehen.

Aimard: Er hat seine Richtung, eine Intuition, aber er geht darüber hinaus.

PIANONews: Man erwartet bei Harnoncourt einen "sprechenden" Beethoven. Musik als Klangrede, wie nah ist Ihnen diese Idee?

Aimard: Wie Harnoncourt das macht, das ist wirklich wie ein Sprechen. Die Verbindung von der klanglichen Sprache und der Sprache selbst, das ist fantastisch. Auch wie er alle zu dieser besonderen Qualität der Artikulation bringt, jede kleine Schicht im Orchester herausarbeitet. Auch seine Überzeugungskraft. Sie haben da zwei Takte und alle Leute spielen das seit Generationen gleich, aber er kommt mit einer Quelle, die etwas anderes sagt. Man denkt, gut, er 'hanoncourisiert', [lacht], aber nach zwei Tagen spüren Sie, wie natürlich das ist.

PIANONews: Steckt in dieser Auffassung von Transparenz und Klangkultur nicht eigentlich eine große Gemeinsamkeit mit Konzepten der Neuen Musik?

Aimard: Das freut mich sehr, dass Sie das sagen. Ich war mir dessen immer sicher. Diese Art und Weise, Musik lebendig zu machen, das ist genau das, was ich in zeitgenössischer Musik immer gesucht habe. Harnoncourts Haltung hat sehr viel mit der Neuen Musik gemeinsam. Man hätte ja erwarten können, da treffen zwei verschiedene Welten aufeinander, aber ich war gar nicht überrascht, dass in der Kritik zu unseren ersten Konzerten das Zusammenspiel als eine große Einheit empfunden wurde.

PIANONews: Sie spielen mit dem Chamber Orchestra of Europe. Wie wichtig ist das Spiel mit Kammerorchester?

Aimard: Sehr. Für die Transparenz und dann auch für das Zusammenspiel. Weil Sie niemals den selben Kontakt und das selbe Engagement bei einem sinfonischen Orchester finden werden. Das ist nicht nur eine Frage der Zahl der Musiker, sondern auch der Mentalität. Selbst bei den besten Orchestern, vielleicht mit Ausnahme der Berliner Philharmoniker, die wirklich teilnehmen bis zum hintersten Pult. Beim Chamber Orchestra of Europe haben Sie das Gefühl mit einem Streichquartett zu spielen. Wenn alle Leute träumen und zusammen musizieren, jeder atmet mit, agiert und reagiert, da können Sie alles riskieren. Das kann man nicht mit einer großen Gruppe verwirklichen.

PIANONews: Passen Sie auf, was Sie jetzt sagen, denn Sie wollen das Repertoire demnächst auch mit Christoph Eschenbach und den NDR-Sinfonikern spielen.

Aimard: Dann muss ich wohl auch etwas schimpfen auf das Chamber Orchstra … [lacht]

PIANONews: Fällt eine solche Umstellung schwer? Bei einem Programm, das so intensiv erarbeitet ist mit kleiner Besetzung und einem bestimmten Dirigenten?

Aimard: Dieses Problem haben Sie ja immer. Mal spielen Sie mit Musikern, die sich mit Alter Musik beschäftigt haben, dann mit altgedienten Geigern der Vibratoschule. Es gibt immer mehrere Wahrheiten. Interessant finde ich, sich immer wieder einzufinden. Ich habe vor zwei Jahren mit dem Boston Symphony Orchestra und Seiji Ozawa Messiaens Turangalila-Sinfonie gespielt. Das war zum Sterben schön, wie Ozawa dieses Stück macht. Er lebt das Stück, er ist das Stück. Ich habe diese Sinfonie vielleicht 100 Mal gespielt, aber niemals so. Werde ich deshalb einen Schmerz empfinden, wenn ich sie das nächste Mal spiele? Nein, das Leben geht weiter. Das Problem ist eher ein anderes, dass man sich heute überall auf der Welt zu einem Konzert trifft, nicht groß probt, einmal durchspielt und ein bisschen Kosmetik macht, fertig. Das ist reine Orchesterbegleitung, das ist nur eine Show für einen Solisten.

PIANONews: Sie wählen oft Ihr Instrument gezielt nach dem jeweiligen Repertoire, um die richtige Klangfarbe zu treffen. Wie war das in diesem Fall?

Aimard: In diesem Fall habe ich extra ein Klavier gekauft. Ein Instrument, für das alle Pianisten in Wien, die darauf gespielt haben, gestorben wären. Aber ich war der erste.

PIANONews: Welches Fabrikat?

Aimard: Ein Steinway & Sons, aber sehr spezifisch vorbereitet. Ich habe sehr viel mit dem Klavierstimmer gearbeitet. Ziel war, alles transparent und lebendig zu halten, auch das Fagott im Piano, wenn der Pianist im Fortissimo sein Arpeggien spielt. Da brauchten wir einen Klang, der kompakt ist, aber auch reich, singend und ausdrucksvoll genug. Man kann das sicher nicht mit einem historischen Instrument vergleichen, aber es sollte dieses reiche Timbre haben.

PIANONews: Spielen Sie gelegentlich auch auf historischen Instrumenten?

Aimard: Nicht öffentlich, nur aus Interesse und zum eigenen Vergnügen. Ich habe aber über Jahrzehnte zeitgenössische Musik auf authentischen Instrumenten gespielt [lacht]. Das ist doch auch was.

PIANONews: Nach wie vor konzentriert sich das Konzertrepertoire auf die Klassik und Romantik. Wird die Hürde ins 20. Jahrhundert unüberwindlich bleiben?

Aimard: Vor zwei Jahren hatte ich in Paris eine Carte blanche für ein Programm, wo ich versucht habe, diese Mauer zu überwinden. Idee war eine Reihe von Stücken aus dem 20. Jahrhundert zu spielen, jeweils mit Einführung, und komplementär dazu ein Stück aus einer ganz anderen Welt. Bergs Kammerkonzert mit der Vorführung eines Films gekoppelt, "Rashomon" von Kurosawa. Oder ein Stück von Stockhausen von einer Kuppe für zeitgenössische Musik mit einer Haydn-Sinfonie auf historischen Instrumenten. Ziel war es, nicht nur die Bezüge aufzuzeigen, sondern auch ein Publikum unter einem übergeordneten Thema zusammen zu bringen, das sich normalerweise nicht begegnen würde. Und das hat sehr gut funktioniert. So ließe sich eine ganz andere Atmosphäre schaffen, sehr frisch, voller Neugierde. Aber da bleibt noch viel zu tun.

PIANONews: Wird diese Grenze in Frankreich weniger wahrgenommen als etwa in Deutschland.

Aimard: Diese Frage umfasst sehr verschiedene Aspekte, man muss die nationale Kultur in Verbindung mit der Geschichte sehen. Aber wenn man von der Situation heute spricht, glaube ich, es gibt ein Basispublikum in Deutschland, das noch sehr konservativ geprägt ist. Aber es gibt immerhin dieses Basispublikum, was in Frankreich nicht der Fall ist. Das heißt, man kann diese beiden Länder nicht wirklich vergleichen. Die Musik hat in Frankreich nicht die selben Wurzeln in der Kultur wie hier. Boulez hat das Ensemble InterContemporain gegründet - ich gehöre nicht mehr dazu, deshalb kann ich jetzt dieses Kompliment machen - auf das man stolz sein kann. Aber es steht dort in keinem größeren Zusammenhang.

PIANONews: Als erfolgreicher Solist arbeiten Sie mit sehr viel Engagement auch als Pädagoge, das ist nicht selbstverständlich.

Aimard: Die Distanz zwischen der Universität und dem Business ist tragisch geworden. Es herrscht die Vorstellung, dass der Star eine Person ist, die es nicht mehr nötig hat zu unterrichten. Um die Jungstars heute wird ein Niveau der Unkultur aufgebaut. Das ist wirklich tragisch, menschlich und künstlerisch. Ich verstehe, dass Menschen nicht gerne unterrichten und dazu keine Begabung haben, aber dass man sich so wenig vermittelt, ist das Symptom einer kulturellen Krise. Es ist wichtig, beides zu verbinden. Man lernt so viel dabei, und überhaupt: es macht viel Spaß.

PIANONews: Um noch einmal auf Harnoncourt zu kommen: der hat einmal bemängelt, dass Musik heute nicht als Sprache vermittelt wird, sondern als Technik.

Aimard: Ich glaube, das hat er selbst sehr stark mit sinfonischen Institutionen erlebt. Technik ist sehr wichtig, sie ist das Mittel, sich zu realisieren und zu einer Kommunikation zu kommen. Aber mehr nicht. Die bloße Technik hat keine Anziehungskraft auf mich. Ich hatte nie einen Sinn für diese zirzensische Virtuosität, Hut ab vor Leuten, die das können, schön, für fünf Minuten. Auch in der Neuen Musik der 50er und 60er Jahre braucht man eine furchtbar exakte Technik, aber das ist nur interessant als Mittel für ein Projekt.

PIANONews: Verstehe ich Sie richtig, dass Sie an der Technik nur arbeiten im Hinblick auf ein konkretes interpretatorisches Problem?

Aimard: Es gibt eine Zeit, wo man rein auf die Technik arbeitet, um ein professionelles Niveau zu erreichen. Aber wenn das zum Selbstzweck wird, habe ich mein Ziel verloren. Was ist Technik? Anschlagstechniken für eine bestimmte Struktur in einem Boulez-Stück, Kantabiletechnik für eine Schubert-Sonate - ich sage bewusst Kantabile-Technik - Polyphonietechnik für Bachs Kunst der Fuge oder unterschiedliche Klangflächentechniken für Debussy. All das entwickeln wir in Wechselwirkung mit dem intuitiven Verständnis der Musik. Man sollte fühlen, in welche Richtung man arbeiten muss. Vielleicht muss man auch mit dem Stimmer arbeiten, um mechanische Mittel zu finden, oder mit dem Produzenten und Tontechniker bei einer Aufnahme. Auch das ist Technik.

PIANONews: Haben Sie ein Ideal, das Sie Ihren Schülern zu vermitteln versuchen?

Aimard: Zu erkennen, welche Freiheit ihnen die Musik gibt. Dass jeder nach seinem Weg suchen muss, um über die bloße Kopie eines vorgegebenen Modells hinauszukommen. Interpretation ist etwas Schöpferisches, eine Mischung aus Ordnung, Kenntnis und Meisterschaft und einer unfassbaren, wilden Intuition. Das ist die Dimension des Künstlerischen, das Sagbare und das Unsagbare.

PIANONews: Vielen Dank für dieses Gespräch, Herr Aimard.

Kurzbiografie

1957 in Lyon geboren, wurde Pierre-Laurent Aimard bereits im Alter von 12 Schüler von Yvonne Loriod, der Frau Olivier Messiaens. Als erster Preisträger des Olivier Messiaen Wettbewerbes erlangte er 1973 erstmals internationale Aufmerksamkeit. In der Folgezeit erspielte er sich große Reputation mit den Werken von György Ligeti und Pierre Bpoulez, der den 20-Jährigen 1977 zum Gründungsmitglied des Ensemble InterContemporain berief. 18 Jahre gehörte er der Formation an, mit der er eine wichtige Rolle in der zeitgenössischen Musikszene spielte. Neben seiner internationalen Konzerttätigkeit ist Aimard auch als Pädagoge ein engagierter Mittler zeitgenössischer Musik. Seit November 1997 unterrichtet er an der Musikhochschule in Köln.

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