Pianonews 04 /2009

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„Manchmal verschreckt mich die Energie des Publikums.“

Piotr Anderszewski

Von: Carsten Dürer


Er ist einer der stilleren Vertreter von Pianisten, die vollkommen unabhängig und mit dem Blick auf ihre eigene Darstellungsweise von Musik ihren Weg gehen. Der 30-jährige Piotr Anderszewski ist anders in vielerlei Hinsicht, in seiner Art der Darstellung von Werken, in seiner Art zu denken, in Bezug auf seinen Karriereweg, den er aufgrund seiner Überzeugungen gegangen ist. Doch er ist vor allem auch eines: ein Künstler mit einer immensen Kraftentfaltung auf der Bühne, die sich nicht in großer Lautstärke widerspiegelt, sondern in seiner Intensität, den Werken das zu entlocken, was man bislang noch nie gehört hat. Als wir ein Konzert in der Kölner Philharmonie mit ihm besuchen, animiert er das Publikum durch sein Spiel zu einer Stille, wie man sie nur selten in solch einem großen Saal erlebt. Am kommenden Morgen treffen wir auf einen Frühaufsteher ...


Kaum 8 Uhr morgens ist es, als Piotr Anderszewski recht aufgeräumt und mit hellwachen Augen aus dem Aufzug des Hotels kommt. Ob er gut geschlafen habe, will ich wissen: „Zu wenig“, sagt er, aber ohne die Müdigkeit zu zeigen, die man bei dieser Aussage erwarten würde. Es war am Abend zuvor durch eine Signierstunde und ein spätes Abendessen nach dem Konzert lang geworden. Wir gehen zum Frühstück im Hotel und beginnen miteinander zu sprechen.
Am vergangenen Abend spielte er ein eher ungewöhnliches Programm mit Bachs 2. Partita c-Moll, Schumanns Humoreske Op. 20, Janáceks Zyklus „Im Nebel” und Bachs Suite Nr. 6 d-Moll.

PIANONews: Es war ein sehr interessantes Programm, das Sie hier in Köln gespielt haben. Könnten Sie erklären, ob es eine Art von rotem Faden in diesem Programm gibt?

Piotr Anderszewski: Ich mag es sehr, Programme mit Bach zu beginnen und auch zu beenden. Das mache ich ziemlich häufig. Ich denke, es gibt keine bessere Musik, um zu beginnen, und keine bessere, um mit ihr zu enden, zusammenzufassen. Bach ist irgendwie der Anfang und das Ende von allem. Es ist schön, Bach als Rahmen zu haben. Und ich denke, dass Schumann und Janácek in der Mitte wunderbar passt. Zudem liegen mir beide Komponisten sehr am Herzen – und ich denke, sie haben vieles gemeinsam. Die Qualität der Poesie – und etwas Rationales. Es ist Musik, die vielleicht nicht auf den ersten Blick sehr strukturiert erscheint, auch wenn ich meine, dass diese Musik sehr stark strukturiert ist; aber nicht in einer klassischen Art und Weise, so dass man es sofort erkennen würde, wie bei Beethoven beispielsweise, wo einem die Struktur direkt ins Auge springt.

PIANONews: Zudem ist Schumann auch sehr kontrapunktisch in seiner Schreibweise.

Anderszewski: Gerade in dieser Humoreske ist Schumann sehr kontrapunktisch. Letztendlich ist gute Musik für mich immer kontrapunktisch – zumindest tonale Musik. Ob es Chopin, Brahms oder Schumann ist.

PIANONews: Aber Chopin doch weniger stark, oder?

Anderszewski [schüttelt energisch den Kopf]: Nein, Chopins Musik ist extrem kontrapunktisch, wenn auch sehr versteckt. Die Kontrolle des Kontrapunkts bei Chopin ist unglaublich, auch wenn er keine rein kontrapunktischen Formen schrieb, keine Fugen, Kanons oder Choräle.

PIANONews: Aber bei Schumann hört man das Stimmgeflecht weitaus deutlicher als bei Chopin.

Anderszewski: Vielleicht, ja, da es bei Chopin so versteckt ist. Aber ich denke fast, dass Chopin noch kontrapunktischer geschrieben hat als Schumann. Mit einem unglaublichen Gespür für Polyphonie, Polymelodie – ich denke eh, dass Chopin der vielleicht schwierigste Komponist ist – für mich jedenfalls. Schumann ist auch sehr schwierig, aber Chopin ist noch schwieriger. Das liegt vielleicht an dem Sinn für das Korrekte bei ihm. Schumann war wenigstens in seiner Art verrückt. Das kommt bei Chopin nicht vor und man darf es so auch nicht spielen. Er schrieb so, wie er selbst war, wie er sich kleidete – sehr korrekt, mit dem Gespür für die Etikette in den Salons, mit extrem guten Manieren, mit Anstand. Und dennoch brodelt innen dieser Vulkan, den man herausarbeiten muss – das ist fast unmöglich. In Ordnung, letztendlich findet man in all der guten Musik und Kunst im Allgemeinen das Paradoxe. Aber die paradoxe Qualität bei Chopin ist eine besonders schwierige, finde ich. Das ist natürlich sehr persönlich.

PIANONews: Sie wurden ja in Warschau geboren, aber anscheinend ja in Frankreich erzogen, so wie es aussieht, denn Sie erhielten ja Ihre Ausbildung am Conservatoire in Lyon in sehr frühem Alter.

Anderszewski: Nun, ich begann das Klavierspiel in Warschau – für ein Jahr. Ich kann mich daran kaum mehr erinnern. Dann sind wir nach Frankreich gezogen, da mein Vater in Frankreich zu arbeiten begann. Also begann ich dort zur Schule zu gehen und auch Unterricht zu nehmen. So bin ich wohl mehr mit Frankreich verbunden, als es mir vielleicht lieb ist. Wissen Sie, die ersten Jahre in der Schule, die ersten Freundschaften, all das, was menschliche Beziehungen ausmacht, sind so wichtig für die Entwicklung. Und so ist Frankreich für mich sehr prägend geworden, der Humor, all die Lebensart.

PIANONews: Denken Sie, dass Sie aufgrund dieser engen Beziehung zu Frankreich mehr in einer Linie mit einer Art französischen Klaviertradition aufgewachsen sind?

Anderszewski: Nein, überhaupt nicht. Ich denke, dass ich einen sehr guten, sehr konservativen Unterricht in Lyon erhielt. Francoise Leage war meine Lehrerin. Dann ging ich nach Strasbourg und dort erhielt ich Unterricht bei Hélène Bosquin, die eine Schülerin von Alfred Cortot war. An sie habe ich die besten Erinnerungen. Aber alles, was sie wirklich hasste, war die französische Klavierschule. Und die größte Liebe ihres Lebens war die Musik von Schumann. Sie brachte mir also die Musik von Schumann im Alter von 10 Jahren nahe, die ich bis dahin überhaupt nicht gekannt hatte. Sie war also alles, aber keineswegs eine Lehrerin in der Tradition der französischen Klavierschule.
Ich weiß eigentlich nicht, welcher Tradition oder Schule ich angehöre. Polnische Klavierschule? Nein, überhaupt nicht, ich denke nicht einmal als Pole.

PIANONews: Aber Ihre Wurzeln sind doch sicherlich immer noch vorhanden. Fühlen Sie manches Mal Ihre polnischen Wurzeln, wenn es um Ihre Person und um den Zugang zur Musik geht? Beispielsweise in Bezug auf polnische Komponisten?

Anderszewski: Mein Charakter ist sicherlich polnisch. Das hat mich natürlich irgendwie in den ersten Jahren meines Lebens geprägt – allerdings muss auch erwähnt werden, dass ich halb ungarischer Abstammung bin. Aber ich wurde die ersten Jahre meines Lebens in Polen vor allem von meiner polnischen Großmutter erzogen. Und da war diese Art des alten Polen, sehr nobel und heroisch im Denken. Das ist ein Polen gewesen, das ich heute nicht mehr erkennen kann. Ich wurde also erzogen, einen Geist eines Landes zu lieben. Wenn ich heute nach Polen fahre, dann fühle ich dies überhaupt nicht mehr, ich fühle mich dort nicht sonderlich wohl. Ich hätte in Polen leben können, aber ich denke, dass ich das nicht könnte. Vielleicht eines Tages, wenn ich alt bin ... Ich bin beeinflusst von polnischen Wurzeln, die vor dem Zweiten Weltkrieg vorhanden waren, als Polen multikulturell war, multireligiös. Als Polen auch noch stärker nach Osten ausgedehnt war. Heute ist es ein künstlich ausgedachtes, es ist ein stalinistisch erdachtes Land. Natürlich hatte Polen auch einmal eine weitere Ausdehnung nach Westen, aber das war um 1000 oder 1100. Aber wir wollen nicht zu sehr in historische Geografie einsteigen – auch wenn wir das machen könnten [er scheint sich intensiv mit der Geschichte seiner Ursprungsheimat befasst zu haben]. Aber kommen wir wieder zurück auf die Musik. Für Chopin gibt es ein sehr eigenartiges Phänomen: Seine Musik ist natürlich vollkommen universell. Aber es gibt etwas sehr Polnisches in seiner Musik, in dem ich einige der Dinge erkenne, die ich in meiner frühesten Kindheit gelernt habe, einige dieser Ideale.

PIANONews: Aber er war auch sehr mit dem alten Frankreich verbunden.

Anderszewski: Polen war immer stark mit Frankreich verbunden, allein schon, um die Deutschen zu umgehen [er lacht und entschuldigt sich für diesen Einwurf]. Er hatte also diese slawische Seele, mit all seiner Generosität und seinem allumfassenden Denken. Und da haben wir wieder dieses Paradoxon: Auf der einen Seite ist er also eingezwängt in einen engen Anzug, um es bildlich auszudrücken, aber mit dieser slawischen Seele. Natürlich war er halb Franzose, aber er fühlte wohl im Innersten sehr als Pole. Ich kann in seiner Musik allerdings nicht viel Französisches entdecken. Was können wir eigentlich aus dieser Zeit als französisch bezeichnen? Berlioz vielleicht, aber nicht nur französisch.

PIANONews: Vielleicht könnte man auch Liszt in Zusammenhang mit Frankreich nennen, da er dort doch recht lange lebte ...
Anderszewski: Nun, wer lebte in dieser Zeit nicht in Paris, der mit Musik zu tun hatte?

PIANONews: Kommen wir zurück auf Ihre Ausbildung. Wo haben Sie sie letztendlich abgeschlossen?

Anderszewski: Nach Strasbourg ging ich zurück nach Polen, allerdings habe ich meine Studien niemals offiziell beendet.

PIANONews: Aha. Aber wann kam der Punkt, an dem es sich entschied, dass Sie ein professioneller Pianist werden wollten?

Anderszewski: Sehr spät, denke ich. So um 1989. Ich hatte das College in Warschau abgeschlossen und erhielt ein Stipendium für die USA. So ging ich an die Universität von Southern California. Zu dieser Zeit, als Polen noch ein kommunistisches Land war, war dies ein wirklich großer Schritt, denn in Polen waren dies wirklich schreckliche Jahre. Also ging ich in die USA und war nicht begeistert. Ich hatte den Eindruck, als würde ich mich dort nicht wirklich weiterentwickeln. Ich ging also zurück nach Warschau.

PIANONews: Wer war Ihr Lehrer in den USA?

Anderszewski: John Perry. Ich fand ihn als Lehrer sehr gut, aber die Struktur seines Unterrichts war zu frei. Ich konnte kommen, wann ich wollte. Ich aber hatte zu dieser Zeit noch nicht genügend Disziplin für diese Art des Lebens. Also ging ich zurück und ging an die Chopin-Akademie in Warschau. Zu dieser Zeit begannen dann aber mehr und mehr die Konzertengagements für mich. Und so habe ich meine Ausbildung nie wirklich abgeschlossen. Tatsächlich aber habe ich vieles abgeschlossen. Wissen Sie, in der Chopin-Akademie hatte man viele Fächer zu belegen, was ich sehr gut finde. Und so habe ich etliche dieser Fächer abgeschlossen, Philosophie, Soziologie, Geschichte. All das habe ich getan, alles, was mir fehlt, ist ein Klavier-Recital, um ein Diplom für Klavier zu erhalten. Ich weiß zwar nicht, wie es heute genau ist, aber zu dieser Zeit musste man ein bestimmtes Repertoire spielen. Und ich bin überhaupt nicht interessiert an dem Klavierkonzert von Paderewski. Für mich war es wichtiger, mehr Schumann oder Chopin zu lernen, meine Konzerte zu spielen.

PIANONews: Wo wir schon beim Repertoire sind: Sie sagten, Schumann wurde Ihnen mit 10 Jahren nahegebracht. Dann gibt es noch etliche andere Komponisten, die in Ihren Programmen immer wieder auftauchen. So scheint es, als ob Sie sich auf das sogenannte klassisch-romantische Repertoire und Bach konzentrieren. Es gibt da etliche Klavierkomponisten, die bei Ihnen fehlen ...

Anderszewski: ... sehr viele Komponisten ....

PIANONews: ... beispielsweise Liszt. Oder die russischen Komponisten wie Rachmaninow, Prokofiew und andere. Passt diese Musik nicht zu Ihrer Persönlichkeit, oder ist es für Sie noch nicht die Zeit, um sich diesen Komponisten zuzuwenden?

Anderszewski: Ich bin nicht besonders angetan von russischer Musik. Es tut mir leid, dass ich das so deutlich sage. Der Komponist, der mich vielleicht noch am meisten anspricht, ist Prokofiew. Ich habe sogar einige seiner Sonaten gespielt, die Nummern sieben und acht. Aber je mehr ich mich entwickle, umso weniger interessiert mich diese Musik. Ich denke zwar, dass er ein Genie war, aber ich weiß nicht, wonach ich in dieser Musik noch suchen soll. Ich muss immer etwas suchen, ein Puzzle zusammenstellen, es vielleicht fertigstellen – und vielleicht sogar erfolgreich die richtigen Schlüsse aus der Suche ziehen. Das funktioniert natürlich nicht immer. Wenn mir alles in der Musik nach dem Lernen so offensichtlich ins Gesicht springt, weiß ich nicht mehr, was ich damit machen soll. Ich muss doch üben an etwas, abgesehen von dem rein mechanischen Üben. Und russische Musik interessiert mich einfach nicht, Rachmaninow oder Tschaikowsky [denkt kurz nach] – ich mag diese Musik einfach nicht. Sie berührt mich nicht. Tatsächlich mag ich deutsche Musik; nun ja, österreichische Musik. Dort ist das Herz der Musik. Natürlich kommen dann noch andere Komponisten hinzu, Szymanowski und Chopin beispielsweise, und Bartók, den ich sehr liebe. Und er ist absolut nicht deutsch, er ist ungarisch, wild – einzigartig. Aber einen Komponisten wie Szymanowski könnte man in seinem Zugang zur Musik schon als sehr deutsch bezeichnen.

PIANONews: Wenn man Ihrem Spiel auf der Bühne zuhört und ihre Aufnahmen anhört, dann kann man das Gefühl bekommen, dass Sie stark daran interessiert sind, die Stimmen sehr stark herauszuarbeiten, alles sehr transparent zu machen, so dass man jeder einzelnen Stimme folgen kann. Zudem scheinen Sie stark an dynamischer Arbeit interessiert zu sein ...

Anderszewski: ... kleinerer Dynamik ...

PIANONews: ... ja geringerer Dynamik. Aber dann plötzlich stellen Sie die Akzente deutlich dar, ohne jemals in ein Forte-Fortissimo zu gelangen. Ist es für Sie grundlegend wichtig, alle Details so transparent herauszustellen, mehr als vielleicht den Vorwärtsdrang?

Anderszewski: Ich denke, dass es grundlegend ist. Wenn Sie das jetzt so sagen, dann bin ich fast erstaunt, dass Sie das so sagen. Für mich ist es offensichtlich, dass es so sein muss. Ich bin glücklich über Ihre Aussage. Ja, ich will so transparent wie nur möglich spielen und alles hören, was da ist. Es geht immer darum, alles herauszuarbeiten, allerdings ohne das gesamte Bild des Stücks zu verlieren. Das ist die Herausforderung. Ich bin immer schon an Polyphonie interessiert und glaube wirklich, dass der größte Teil der guten Musik polyphon geschrieben ist.

PIANONews: Aber gestern Abend, als ich Sie hier in der Philharmonie Köln hörte, dachte ich, dass es gerade für ein normales Publikum, das vielleicht nicht so oft Klavierkonzerte hört, sehr schwer sein kann, Ihrer Darstellung der Humoreske von Schumann zu folgen, das große Bild zu erhalten. Es gab so viele Details, die Sie herausarbeiteten ...

Anderszewski: Ich weiß nicht, ob das so ist. Was ist ein „normales Publikum“? Was überhaupt ist das Publikum? Wissen Sie, Sie kommen auf die Bühne und Sie wissen nicht, für wen Sie da spielen werden. Da gibt es vorgeschulte Zuhörer, da gibt es solche, für die es vielleicht das erste Konzert in ihrem Leben ist. Es gibt Leute, die kommen, da sie einen lieben, solche, die kommen, da sie einen hassen. Und dann hat man also da ein Publikum von 1000 Personen, das aus Individuen besteht. Und diese Leute haben alle unterschiedliche Energien. Und diese Energien beeinflussen einen, wenn man auf die Bühne kommt. Manchmal bin ich verschreckt von dieser Energie. Da ist dieses Unbekannte. Eigentlich bin ich aber ein Mensch, der die Intimität mag, es mag, für eine Person, die ich kenne, zu spielen. Ich verstehe aber, was Sie sagen. Und was ich versuche darzustellen, ist etwas sehr Intimes. Und eine große Zuhörerschaft kann damit vielleicht nichts anfangen. Vielleicht mache ich da auch einen Fehler und sollte mehr darauf eingehen. Manches Mal denke ich darüber nach.

PIANONews: Es geht hier sicher nicht darum, ob man etwas richtig oder falsch macht.

Anderszewski: Was genau haben Sie denn beim Konzert empfunden, wie die Zuhörer den Schumann aufgenommen haben?

PIANONews: Ich dachte so bei mir ...

Anderszewski: ... dass sie keine Idee hatten, was da vor sich geht … [lacht]

PIANONews: Ich dachte, dass sie vielleicht dem großen Bogen nicht folgen können. Aber was ich auch feststellte, dass es aufgrund Ihrer recht zurückhaltenden Dynamik extrem leise im Saal war. Sie spielen zwar in vielen großen Sälen, aber dadurch kreieren Sie auch Intimität.

Anderszewski: Das ist mir sehr wichtig. Aber es ist nicht unbedingt abhängig von der Größe des Saals. So ist beispielsweise die Carnegie Hall in New York City, wo ich auch meine neue CD eingespielt habe, sehr groß. Ich fühlte mich dennoch sehr intim dort. Es kommt immer auf den Saal an.

PIANONews: Ist es wirklich war, was ich gelesen habe, dass Sie selbst aus dem Leeds-Wettbewerb 1990 ausgestiegen sind, da Sie Ihr Spiel der Webern-Variationen nicht gut genug fanden?

Anderszewski: Die Diabelli-Variationen von Beethoven waren es ...

PIANONews: Ich dachte, es waren die Webern-Variationen.

Anderszewski: Die habe ich dann noch schlechter gespielt. Ja, es stimmt, ich habe mich selbst disqualifiziert. Aber ich war auch müde von diesem Wettbewerb. Ich dachte ja gar nicht, dass ich so weit kommen würde in diesem Wettbewerb. Ich wollte schon längst nach Hause gehen, ich war am Ende meiner Nerven. Wenn man von Runde zu Runde geht, und man wartet, um zu erfahren, wen sie ausgewählt haben. Und dieses Auswahlverfahren, das Schauen auf eine Liste, ob man weiter ist oder nicht – all die unglücklichen Gesichter zu sehen, die nicht weitergekommen sind ... Für mich war das einfach schrecklich. Allein diese Tatsache: Bin ich auf der Liste oder nicht, ist für mich eines der schlimmsten Verbrechen überhaupt. Dass ein Komitee entscheidet, ob man ins System passt oder nicht.

PIANONews: Sie haben nie wieder an einem Wettbewerb teilgenommen?

Anderszewski: Nein.

PIANONews: So kann man sagen, dass es durchaus möglich ist, eine Karriere ohne einen Wettbewerbsgewinn zu machen.

Anderszewski: Gerade heutzutage, wo es so viele Wettbewerbe gibt, macht es bei einem Wettbewerbsgewinn kaum einen Unterschied. Es kann ein Start sein, ja, aber es gibt schnell wieder einen anderen Gewinner.

PIANONews: Sind Sie niemals zum Chopin-Wettbewerb gegangen?

Anderszewski: Tatsächlich bin ich anstelle des Chopin-Wettbewerbs nach Leeds gegangen. Ich geriet in Polen stark unter Druck, am Chopin-Wettbewerb teilzunehmen, was ich aber nicht wollte. Ich hatte keine Lust, ein Jahr lang nur noch Chopin zu spielen, um an diesem Wettbewerb teilnehmen zu können. Und da sah ich das Programm des Leeds-Wettbewerbs, wo man eine sehr freie Programmwahl hat. Und so ging ich nach Leeds, da der Wettbewerb zum selben Zeitpunkt stattfand.

PIANONews: Sie haben soeben live in der Carnegie Hall eine CD aufgenommen, mit Bach, Schumann, Janácek und Beethovens Op. 110.

Anderszewski: Ja, aber nicht die Humoreske von Schumann, sondern den „Faschingsschwank aus Wien“. Ich werde dieses Stück allerdings nie wieder spielen. Es ist zu perfekt und zu schwierig. Nebenbei bemerkt, habe ich dieses Werk auch in Leeds gespielt [er lacht]. Ich spiele dieses Werk schon sehr lange und ich liebe es. Aber ich finde es zu schwierig. Auch wenn ich glaube, dass die Aufnahme sehr erfolgreich sein wird – jedenfalls war ich sehr glücklich damit, was ich bislang gehört habe. Aber ich erinnere mich an die Aufnahme im Dezember 2008 und danach dachte ich für mich: Das ist zu schwierig, das spiele ich nicht mehr.
PIANONews: Wäre es anders, wenn Sie es im Studio einspielen würden, anstatt es live zu spielen?

Anderszewski: Natürlich, das ist vollkommen anders, professioneller.

PIANONews: Kommen wir einmal auf Ihre Aufnahmen. Sie sagten einmal, und wie ich glaube, ist das sehr wahr: Dass es niemals eine perfekte Interpretation eines Werkes gibt. Natürlich schaut man immer nach etwas Neuem in den Werken. Aber wie sehen Sie dann die Aufnahmen, die Sie bislang gemacht haben? Ist es nur ein Festhalten des Moments?

Anderszewski: Nein, für mich ist es anders. Eine Studio-Aufnahme hat für mich eine objektive Qualität. Normalerweise gehe ich mit Stücken ins Studio, die ich sehr lange spiele. Und so ist es eine Summe der Erfahrungen mit diesem Werk, das ich dort einspiele. In diesen vier oder fünf Tagen im Studio bringe ich all diese Erfahrungen dann sehnsüchtig zusammen. Künstlerisch gesehen, ist es für mich die vielleicht befriedigendste Arbeit überhaupt. Es ist meine musikalische Vision, die ich da wiedergeben kann. Meine subjektive Vision, aber natürlich auch eine persönliche Objektivität. Und dann ist auch das Editieren für mich ein künstlerischer Moment.

PIANONews: Editieren Sie die Aufnahmen selbst?

Anderszewski: Natürlich mit einem Tontechniker, aber ich sitze immer daneben. Ich habe ein paar Mal versucht, es komplett anderen zu überlassen, aber das war immer eine große Enttäuschung. Allerdings ist dieser Prozess sehr zeit- und nervenraubend – es ist wirklich harte Arbeit. Aber wenn man es richtig macht, dann wird das Editieren ein künstlerischer Prozess. Und natürlich kann man mit der heutigen Technologie fast alles machen. Allerdings birgt das auch die Gefahr, dass man zu viel macht.

PIANONews: Sie meinen dann Note für Note zu schneiden?

Anderszewski: Natürlich nicht. Aber ich bin auch gegen die Leute, die sagen, man solle ja nicht zu viel editieren, da es zu klinisch werden würde. Ich aber denke, es reicht schon aus, auch nur einen Schnitt zu machen. Das ist in dieser Ansicht schon falsch. Und wenn man dieses Spiel schon beginnt, dann kann man es auch wirklich bis zum Ende durchführen. Aber gut, und zwar so, dass man die Idee vollkommen klar zustande bringt. Editieren ist manches Mal weit kreativer und künstlerischer, als Klavier zu üben. Natürlich haben wir unglücklicherweise einen physischen Körper und dadurch gibt es die mechanischen Aspekte, die wichtig sind, da man sie nicht vermeiden kann. Im Editieren ist es nur noch der Geist, der arbeitet.

PIANONews: Sie würden also Werke, die Sie einmal eingespielt haben, nicht noch einmal einspielen?

Anderszewski: Nicht im Studio. Vielleicht irgendwann einmal, wenn ich eine vollkommen andere Vision eines Werks habe, dann vielleicht. Aber so weit bin ich mit den Ergebnissen sehr zufrieden. Wenn ich dann aber diese Werke wieder auf der Bühne spiele, finde ich neue Relationen, wie bei den Diabelli-Variationen von Beethoven, die ich vor neun Jahren einspielte und im vergangenen Jahr wieder im Konzert gespielt habe. Und ich glaube, ich spielte sie auf der Bühne besser, aber es ist nicht so substanziell, dass ich sie wieder einspielen wollte. Vielleicht ist es jetzt etwas schneller – überhaupt scheint es so, dass ich immer schneller spiele, je älter ich werde [lacht].

PIANONews: Wie sieht es bei Aufnahmen aus, bei denen Sie von anderen Musikern abhängig sind, von Orchestern?

Anderszewski: Davon habe ich ja nur wenige gemacht, aber es ist sehr hart.

PIANONews: Ist diese kreative Überzeugung auch der Grund, dass Sie selbst dirigieren?

Anderszewski: Vielleicht, ich habe noch nie eine Aufnahme mit einem Dirigenten gemacht, vielleicht sollte ich es einmal versuchen [er grinst]. Bei einigen Werken braucht man natürlich einen Dirigenten.

PIANONews: Aber Sie spielen ja eh nicht gerne diese großbesetzten Werke, bei denen man zwangsläufig einen Dirigenten benötigt, oder? Ich meine Rachmaninow beispielsweise.

Anderszewski: Nun, auch bei einem Schumann-Konzert benötigt man einen Dirigenten. Oder Bartók-Konzert, die ich gerne spiele. Oder auch die Szymanowski „Symphonie Concertante“, die ich sehr gerne einspielen würde.

PIANONews: Aber Sie würden nicht weiter gehen, also wirklich auf dem Dirigentenpult stehen wollen?

Anderszewski: Ich habe darüber nachgedacht, aber ich bin dafür nicht ausgebildet. Und ich habe nicht genug Zeit, um mich damit zu beschäftigen. Es gibt ein paar Werke, die würde ich gerne einmal dirigieren. Die Missa Solemnis von Beethoven zu dirigieren, wäre ein Traum von mir.

PIANONews: Vielen Dank für dieses ausführliche Gespräch.

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