Pianonews 05 / 2007

Über Politik und die Zukunft von (Klavier-)Musik

Frederic Rzewski

Von: Carsten Dürer


Wer ist denn Frederic Rzewski? Nun, mir war der Name auch erst vor einigen Jahren aufgefallen, als Marc-André Hamelin die CD unter dem Titel „The People United Will Never Be Defeated“ veröffentlichte. Eine faszinierende neue Welt an Klaviermusik offenbarte sich da, eine Welt von Klängen, die so viele interessante Ideen in einem Werk vereinen, dass man nicht einmal im Entferntesten von Stilbeeinflussung oder Epigonentum zu sprechen wagte. Doch wer ist dieser Mann, der mittlerweile 70 Jahre zählt und immer noch auftritt, um seine Musik oder Werke von Beethoven zu spielen? Wir trafen diese schillernde und intelligente Künstlerpersönlichkeit am Rande des „Klavierissimo“-Festivals im schweizerischen Wetzikon.



Nachdem er am Vorabend ein immens spannendes Konzert mit eigenen Werken ge- spielt hat, treffen wir uns zum Frühstück und beginnen als Erstes über Wettbewerbe zu sprechen. Auch Frederic Rzewski hat in der Vergangenheit häufiger einmal in Wettbewerbsjurys gesessen, „aus Neugier, wie es überhaupt bei solchen Jurys funktioniert“, meint er: „Ich habe festgestellt, dass es ein Pokerspiel ist, ein Spiel wie das berühmte Black Jack, wie man seine Punkte verteilt, um einen speziellen Kandidaten weiterzubringen“, wie er sagt. „Was ich dabei gelernt habe, ist, dass ein Pianist, der etwas zu sagen hat, zwar einen Preis erhält, aber niemals den ersten Preis“, meint er. Nun, eine Jury ist ein demokratisches Gebilde, das niemals den Pianisten, der mit seinen Interpretationen polarisiert, weiterbringt. Diese Art von Pianist kann niemals gewinnen. Wer gewinnt, ist das gehobene Mittelmaß. „Ja, ist das nicht interessant? Das Problem aber ist doch, dass diese Jurys vollkommen korrupt sind“, lacht er hämisch, „alles Rationale geht dabei in Luft auf.“ Rzewski hat immer schon und seit langem deutliche Ansichten vertreten. Er hat vor allem immer wieder in Jurys von Kompositionswettbewerben gesessen, „da ich Amerikaner bin, der in Europa lebt, und so kann man die Flugkarte sparen“, meint er grinsend. Ironische, nicht immer ganz ernst gemeinte Aussagen scheinen einen Teil seiner Persönlichkeit aufgrund von Erfahrung auszumachen. „Dort in diesen Wettbewerben habe ich mir immer alle Werke, auch die, die längst aussortiert wurden, damit die Jury nicht mit zu vielen nicht guten Werken belästigt wird, angesehen. Und immer finde ich dabei wichtige Dinge.“ Letztendlich setzt sich allerdings, so glaube ich, Qualität beim Publikum durch, nicht unbedingt ein erster Preisträger, das zeigt die Historie der Wettbewerbe doch zu deutlich. Doch Rzewski sieht es etwas anders: „Man weiß natürlich auch nicht, wie viele gute Künstler keine Karriere durch dieses Wettbewerbssystem machen, die es vielleicht wert gewesen wären.“ Kritisch ist er, immer noch. Und dieses kritische Bewusstsein zieht sich durch sein gesamtes Leben – und die Suche nach neuen Ausdrucksmitteln.

Die Ausbildung

Es tauchen viele Lehrernamen in der Biografie Rzewskis auf. Doch inwiefern haben Charles Mackey of Springfield, Walter Piston, Roger Sessions und Milton Babbitt ihn beeinflusst, in kompositorischer wie in pianistischer Hinsicht? „Charles Mackey war mein erster Klavierlehrer, und bei ihm habe ich auch Harmonielehre, Kontrapunkt und Komposition gelernt. Das war im Alter von sieben bis 15 Jahren. Und das war natürlich für mich sehr wichtig. Die anderen Namen, die Sie nennen, sind einfach Komponisten, die in den Institutionen unterrichtet haben, in denen ich ausgebildet wurde, wie an den Universitäten Princeton oder Harvard. Piston war ein sehr sympathischer Mann, aber er war selten vor Ort. Sessions war schon ziemlich alt und hatte die Tendenz, die gesamte Stunde damit zuzubringen, uns Geschichten über seine Treffen mit berühmten Intellektuellen zu erzählen. Milton Babbitt ist ein sehr interessanter Mensch, ein guter Komponist, aber sehr an Macht interessiert. Und ich denke, er hat sofort begriffen, dass ich nicht in seine Gruppe von Jüngern passte. Ich war befreundet mit John Cage, einem seiner Todfeinde. So haben wir niemals über Musik gesprochen und so haben wir uns im Café getroffen und er redete über Baseball und Broadway-Musicals.“ Dann waren da noch Dallapicolla und Cage, den er schon erwähnte. „Nun, bei Dallapiccola hatte ich nur einige wenige Stunden, denn auch er hatte begriffen, dass ich kein Jünger war. Und er hatte Recht. Ich war im Alter von 22 Jahren nach Europa gekommen“, erklärt er. Dies war aufgrund eines Fulbright Stipendiums möglich, doch die Zeiten waren anders als heute: „Dieses Fulbright Stipendium damals ging sehr weit. Man bekam 300.000 Lire im Monat, damit konnte man jeden Tag ins Restaurant gehen und so viel Wein trinken, wie man wollte. Und im ersten Jahr interessierte mich eigentlich nur das“, grinst er vielsagend. „Ich hatte natürlich damals Unrecht. Ich hätte von diesem Komponisten Dallapiccola viel bekommen können, aber ich war jung und dumm. Und so hat er mich einfach weggeschickt – ich war eine Zeitverschwendung für ihn.“

Frederic Rzewski hatte sein Handwerk gelernt, versuchte einen eigenen, neuen Ausdruck zu finden. Wie schaffte er das, wenn er beständig die Meinung der Tradition negierte? „Es waren die 60er Jahre. Alle Professoren waren für uns irrelevant. Das war ein großer Fehler von meiner Seite, ich hätte mich vor allem gegenüber Dallapiccola anders verhalten sollen – aber das ist Vergangenheit.“ Aber wann kam es dann zu der Beeinflussung von so wichtigen Persönlichkeiten wie John Cage, David Tudor oder Karlheinz Stockhausen? „Oh, John Cage war schon in den 50er Jahren sehr wichtig für mich. Ich habe niemals bei ihm studiert, aber durch meinen Freund Christian Wolff habe ich ziemlich viel Zeit in seiner Nähe verbracht, auch in der von David Tudor. Und David Tudor war vielleicht vor allem beeinflussend, nicht dass ich bei ihm Stunden genommen hätte, aber indem ich ihn beim Spiel beobachtete. Stockhausen war natürlich auch sehr wichtig für mich, auch in pianistischer Hinsicht. Anfang der 60er Jahre brachte mir mein Freund Franco Evangelisti die Partitur von dem X. Klavierstück. Ich habe dann dieses Stück uraufgeführt bei einem Festival in Palermo. Dann habe ich es in einigen deutschen Städten noch gespielt, das war sehr wichtig für mich.“ Damals hatte Stockhausen einen großen Namen in der Szene und Rzewski sagt „zu Recht“.

Improvisierte Musik und Kommunikation

Improvisierte Musik ist für Rzewski wichtig, das hört man auch bis zu einem guten Grad in seinen Kompositionen. Dennoch notiert er seine Musik. Wie stark ist für ihn die Verbindung zwischen Improvisation und Notation von Bedeutung? „Die Improvisation ist – mit einigen Ausnahmen, wie der französischen Orgelimprovisation – aus der klassischen Tradition eigentlich verschwunden. Und erst in den vergangenen Jahrzehnten ist sie wieder unter dem Einfluss des Jazz eingeflossen. Aber auch niemals im Hauptstrom der klassischen Musikausübung. Es bleibt immer eine Nebensache. Das hat verschiedene Gründe – ich glaube in meinem Fall, und im Fall von Komponisten meiner Generation, hängt dies mit den experimentellen Extremen der 60er Jahre zusammen. In den 60er Jahren habe ich sehr viel mit meinen Freunden und Kollegen mit Live-Elektronik gespielt, wirklich gespielt, nicht gearbeitet“, sagt er mit einem Grinsen, „auch unter dem Einfluss von John Cage und David Tudor. Irgendwie sind wir dann mit Jazzmusikern in Kontakt gekommen, die in Rom auftauchten. Rom wurde damals ja sehr viel von Künstlern aller Couleur besucht. Diese Leute arbeiteten mit sehr ähnlichen Ideen, obwohl sie von einer ganz anderen Tradition kamen. Die Improvisation war ein gemeinsamer Boden, auf dem diese verschiedenen Traditionen zusammenfließen konnten. Es gab gegenseitigen Einfluss mit Musikern wie Steve Lacey oder Anthony Braxton. Und auch heute gibt es immer noch einen kontinuierlichen Dialog unter diesen Leuten, obwohl in den 80er und 90er Jahren die Grenzlinien zwischen Klassik und Jazz wieder deutlicher gezogen wurden. Es gibt keine Festivals mehr für experimentelle Musik, in denen beide Arten von Musik aufgeführt werden. Ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist. Ich glaube, es kann beides sein.“ Warum sollte es schlecht sein, ein solches Festival für alle Arten von experimenteller Musik durchzuführen? „Ich glaube, es gibt zu viel Kommunikation in der Welt. Wir werden alle sterben, weil beständig Flugzeuge die Welt kreuzen und unbekannte Viren aus Papua-Neuguinea überall hinbringen“, sagt er als Beispiel für die extreme Globalisierung der Welt. „Es gibt zu viel Austausch von Ideen. Sobald eine Entdeckung in irgendeinem Gebiet der Welt gemacht wurde, weiß man davon überall. Das ist nicht gut. Es ist viel besser für die Wissenschaft, die Kunst und die Kultur im Allgemeinen, dass die Menschen in Isolierung arbeiten. Denn nur unter diesen Umständen sind originelle Ideen möglich. Wenn alle Menschen ständig miteinander kommunizieren, wird alles platt und neutral und gleich. Wie in totalitären Gesellschaften, wo nur eine Idee gültig ist, oder nur eine Version der Tatsachen. Es ist vielleicht gut, dass in klassischen Konservatorien, den Schülern von einem Klavierlehrer es nicht erlaubt wird, mit den Schülern eines anderen Klavierlehrers zu kommunizieren. Das gibt es auch heute noch. Wir lachen darüber, aber es gibt daran vielleicht etwas Positives. Es ist vielleicht gut, dass eine Tradition in ihrer Reinheit so weit wie möglich erhalten wird und nicht kontaminiert von anderen wird.“ Kulturelle Traditionen, so meint Rzewski, werden aufgeweicht, Sprachen verschwinden, und vielleicht wäre es höchste Zeit, kulturelle Traditionen so bald als möglich gegen andere Einflüsse zu verteidigen. Ein interessanter und – so dargelegt – sicherlich überlegenswerter Gedanke, den Frederic Rzewski aufgrund seiner langen Erfahrungen hier anführt. Und vor allem dann, wenn man bedenkt, wie international es heute in Bereichen der Klavierausbildung zugeht und wie oft schon das Gleichwerden von Interpretationen in unserer Klavierwelt negativ bewertet wurde. „Vielleicht sollte es beispielsweise eine Insel irgendwo im Pazifischen Ozean geben, auf der die englische Sprache verboten ist, falls sie irgendwelches Gift enthält – wie zum Beispiel die Worte ‚good’ und ‚bad’“, lacht er über seine Idee.

Aber Frederic Rzewski hat auch immer Einflüsse aufgenommen, die von anderen Menschen auf ihn übergingen. Zudem schreibt er ja Musik auf, schreibt seine Werke auf Papier, damit diese wiederum von anderen gespielt werden können. Ist das nicht auch eine Art der Globalisierung, der Fortspinnung von Kommunikation auf einer anderen Ebene? Wie auch immer, wie sieht ein Komponist wie er seine geschriebenen Werke, wenn sie doch notiert, aber immer wieder unterschiedlich interpretiert werden können? Ist das eine Art Freiheit, die er gerne sieht? „Ein Meister der Notation ist natürlich Beethoven gewesen. Bei ihm kann man ganz deutlich sehen, dass er ganz sorgfältig arbeitet und genau die Weise zu schreiben findet, dass es sehr deutlich und klar ist. Doch zur gleichen Zeit ist diese Schreibweise offen für die Möglichkeit unterschiedlicher Interpretationen. Meiner Meinung nach ist das ein bewusstes Geheimnis von Beethoven und ist dadurch auch verantwortlich dafür, dass seine Musik seit Generationen immer weiter lebt, denn jede Generation findet etwas Neues in den Noten und es ist jedes Mal gültig, wie die letzte Sichtweise. Das ist eine Eigenschaft des Schreibens, die man heute immer noch nicht richtig begriffen hat. Wie ist es möglich, mit so wenigen Tönen und schwarzen Zeichen auf weißem Papier so viele Informationen transportieren? Bei Schumann zum Beispiel gelingt es, in zwei Systemen sechsstimmige Kontrapunktik zu schreiben. Die Information ist unglaublich dicht. Und natürlich ist es nur wenigen Komponisten gelungen, bis zu diesem Grad von Raffiniertheit zu kommen.“ Aber auch diese beiden Komponisten haben sehr viel durch Kommunikation gelernt. Und beide Komponisten haben zwar ihr Handwerk gelernt, aber auch viel experimentiert und Offenheit Neuem gegenüber bewahrt.

Komponieren und Komponisten

Ist es da nicht immer noch – auch heute – selbstverständlich, wenn man eine starke Persönlichkeit vor sich hat, dass diese sich trotz der globalen Kommunikation durchsetzt? „Ich weiß nicht, wie man dazu kommt, solche Werke zu schreiben. Und ich glaube, ich werde es niemals verstehen, wie man Komponist wird, das ist einfach zu eigenartig, als dass man es erklären könnte. Bartók beispielsweise hat schlichtweg abgelehnt, Komposition überhaupt zu unterrichten, weil er meinte, dass dies nicht möglich sei. Ich denke, er hatte Recht. Ich habe zwar unterrichtet, aber ich denke, dass ich alles, was ich unterrichten kann, in zwanzig Minuten sagen kann, und dann ist Schluss“, grinst er wissend. Das bedeutet für ihn also, dass es aus der jeweiligen Person selbst kommt, dass es etwas Natürliches und Gegebenes für einen Komponisten ist, sich auszudrücken? „Ich glaube vielmehr, es kommt aus der Gesellschaft. Warum gibt es heute keine großen Komponisten mehr wie diejenigen, die wir aus dem 19. Jahrhundert genannt haben? Es ist nicht so, dass diese Genies nicht mehr geboren werden. Die sind immer vorhanden. Nur gibt es zu gewissen Zeiten an gewissen Orten eine Komplexität von Umständen, die es ermöglichen, dass solche Genies hervortreten – wie Schumann. Es gibt Schumanns überall und immer. Die Welt hat Millionen von Schumanns, überall. Aber nur in gewissen Gesellschaften und zu gewissen Zeiten können daraus wirklich Schumanns werden. Viele von den großen Malern der italienischen Renaissance waren eigenartigerweise Waisen. Sie wurden von der Kirche aufgezogen, lernten dort zu malen, um die Kirche auszuschmücken. Jeder kann ein großer Künstler werden. Man braucht kein großes Genie dafür. Man kann das bei fünfjährigen Kindern sehen, sie sind alle große Maler. Aus verschiedenen Gründen geben diese Menschen die Kunst auf, wenn sie erwachsen werden. Diejenigen, die wir Künstler nennen, sind einfach diejenigen, die ihre infantilen Träume niemals aufgegeben haben, das ist alles.“ Soll das heißen, dass wir heute noch immer solche großen Künstler haben, sie aber einfach nicht erkennen? Schauen wir vielleicht zu stark immer zurück, in die Vergangenheit? Gibt es vielleicht heute Künstler, die vielleicht erst im Rückblick als Genies anerkannt werden? „Es ist so kompliziert, diese ganze Materie. Aber scheinbar – zumindest in den westlichen Industrienationen – sind die Umstände für die Kunst nicht günstig. Es gibt zu viel Kommerz und zu viele Monopole in der Kultur.“ Er meint, dass es vielleicht in Latein- oder Südamerika bald Zeiten geben wird, die für die Kunstentwicklung güns-tiger sein werden, wie im 19. Jahrhundert in Europa. „Die sogenannte klassische Musiktradition beispielsweise ist eine Tradition von Dilettanten. Die ganze Kammermusikliteratur des 19. Jahrhunderts existiert, weil die Rechtsanwälte und die Bürgerlichen die Dilettanten waren, die diese Musik spielten und förderten. Deshalb gab es überhaupt Schumann und Brahms. Und dieses Dilettantentum gibt es kaum noch. Es existiert noch, aber viel schwächer.“ Mittlerweile wächst genau dieser Dilettantismus allerdings wieder mehr und mehr, auch in Europa. Frederic Rzewski war immer ein politisch interessierter und engagierter Mensch, was vielleicht nicht ausbleibt, wenn man im Umfeld von Christian Wolff, John Cage und David Tudor herangewachsen ist. Denkt er, dass Musik in jedem Fall auch etwas Politisches ist? „Nun, das hat Schostakowitsch gesagt, als er meinte, es gibt keine Musik ohne Ideologie. Und wenn er das meint, muss es wahr sein“, lacht er. Denkt er denn, dass Musik etwas politisch bewirken kann? „Das ist sehr schwer zu wissen. Wahrscheinlich nicht, aber man kann nicht 100-prozentig sicher sein. Die beste Strategie ist wahrscheinlich, nicht daran zu glauben, aber sich so zu verhalten, als ob es möglich sein könnte. Denn: Man weiß nie. Wagner dachte natürlich, dass die Musik die Menschenseele beeinflussen könnte – auf sehr radikale Weise.“ Eigenartigerweise glauben totalitäre politische Systeme immer an die Macht der Musik zur Beeinflussung der menschlichen Gemüter. „Ja, gerade die Nationalsozialisten in Deutschland und die Stalinisten waren sehr überzeugt von Wagners Musik, beide. Das lässt sich beweisen. Wenn man daran glaubt, dass die Ideen die menschliche Seele beeinflussen können – und wenn man gleichzeitig daran glaubt, dass die gelernten Eigenschaften an die weiteren Generationen vermittelt werden können, wie es der Biologe Lizenkow gedacht hat, dann ist es klar, dass Ideen gefährlich sein können. Dann macht es Sinn, die gefährlichen Ideen zu isolieren. Und das kommt direkt aus den Wagner’schen Ideen.“

Kommerz und Erfahrungen

Sind heutzutage nicht ähnliche Dinge im Entstehen? Besteht dadurch, dass der Kommerz – wie Rzewski selbst sagt – immer deutlicher in der Musik zutage tritt und die Konzernbildungen immer mehr Macht auf sich konzentrieren, auch eine Gefahr, dass gegenläufige Ideen negiert werden? „Es gibt keine Konspiration darüber, was gut und schlecht ist. Dies ist eine einfache Folge des Monopolkapitalismus“, sagt er und fügt hinzu: „Die Musikindustrie hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten sehr verändert. Jetzt gibt es vielleicht nur drei oder vier Schallplattengesellschaften in der ganzen Welt, die Welt ist in diesem Feld mehr monopolisiert als in den 60er Jahren, als viele Popgruppen auf kleinen Labels erschienen sind.“ In der klassischen Szene aber gibt es doch seit vielen Jahren einen Umbruch, dass viele kleine Labels mit viel Engagement einen gewissen Erfolg vorweisen können. „Das ist natürlich interessant, aber es bleibt immer noch ein Seitenphänomen, hat aber nichts mit dem großen Geld und dem großen Kommerz zu tun“, sagt er. „Ich habe es aus meiner eigenen Erfahrung erlebt. Ich habe vor einigen Jahren eine Box mit fünf CDs bei dem Label Nonesuch herausgebracht. Und ich dachte, bei solch einer Firma werden die Platten überall zu finden sein. Aber es war das Gegenteil, denn in jedem Land gibt es ja ein eigenständiges Vertriebssystem. So kann es vorteilhafter sein, dass man eine Aufnahme mit einem ganz kleinen Label macht, das in jedem Land jemanden hat, solche kleinen Labels zu vertreiben.“ Die Nonesuch-Box ist dadurch heutzutage so gut wie nicht zu kaufen, außer über das Internet. Viele Aufnahmen sind auch bei HatHut erschienen, einem kleinen Label. Aber auch dort hat er komische Erfahrungen gemacht: „Ich habe seit Jahren keinerlei Kommunikationen zu diesem Label“, sagt er mit Denkerfalten auf der Stirn.

Die eigenen Werke

Er selbst sagt über seine Klaviermusik: „Ich versuche alles in die geschriebenen Noten zu integrieren, denn wenn man Worte benötigt, um die Musik zu erklären, dann bricht die Musik selbst zusammen.“ Seine Musik ist stark in der Aussagekraft, rhythmisch vollkommen berauschend, frei von Vorbildern, seine Melodiegebung schwankt zwischen freitonalen Momenten, durchwirkt mit wunderbar eingängigen Melodien, manches Mal an Volksliedthemen erinnernd. Versucht er denn seine Klavierwerke, werden diese von anderen Pianisten aufgeführt, mit diesen einzustudieren? „Meistens ist das nicht möglich“, meint er und sagt, dass seine Stücke meist nur von Pianisten gespielt werden, die etwas zu sagen haben: „Die konventionellen Pianisten bleiben meiner Musik fern. Und ich glaube, das ist gut. Das habe ich von Chopin gelernt. Bei Chopin und bei Berio ist es doch so: Diese Musik ist nicht so schwer zu spielen, wie man immer im Allgemeinen glaubt. Sie ist nicht leicht, aber auch nicht so schwer, dass man sie nicht bewältigen könnte. Aber bei Chopin kommt es häufig vor, dass eine Seite eines Werkes unglaublich schwer ist. Und ich denke, dass er dies bewusst gemacht hat, damit zweitrangige Pianisten seine Werke nicht spielen. Die vorletzte Seite der vierten Ballade beispielsweise ist wirklich schwer.“

Musik-Zukunft

Frederic Rzewski hat immer selbst auch seine Werke nicht nur live gespielt, sondern auch auf CD eingespielt. Dabei hat er schon vor etlichen Jahren gesagt, dass er glaube, dass das Aufnahmemedium an sich nicht zukunftsträchtig ist. Wie sieht er das heute? „Vielleicht ist diese Aussage zu kategorisch. Aber eines ist klar: dass wir in einer Epoche leben, in der die Musik mit Aufnahmen identifiziert wird. Und das steht im Wiederspruch zu den Erfahrungen in vergangenen Zeiten, in denen die Musik eine Tätigkeit war, woran man aktiv teilnimmt. Es gibt Konzerte erst seit ein paar Jahrhunderten, in der die Zuhörer passiv aufnehmen, was da gespielt wird. Und weniger als ein Jahrhundert sitzt man vor einer Maschine und hört zu. Ich glaube, es gibt Grenzen zu solch einer Auffassung von Musik, und wahrscheinlich wird man wieder zur uralten Funktion von Musik zurückkehren, wo man aktiv musiziert. Und ich meine dabei nicht Interaktivität über das Internet. Und deshalb lege ich so viel Wert auf die Wiedergeburt des Dilettantismus in der Musik, denn dies gibt Aussichten auf die Entwicklung der klassischen Musik.“ Denkt er, dass es auch ganz kippen könnte, dass es nur mehr wenige Musiker gibt, die dann diese Musik über moderne Kommunikationsformen verbreiten? „Das könnte in bestimmten Zeiten in speziellen Gesellschaftsformen passieren. Soziologen haben beispielsweise festgestellt, dass in Deutschland in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg sehr wenig gesungen wurde, und dass daraus gewisse neurotische Zustände resultierten.“ Das ist ein Beispiel dafür, dass dann, wenn die Menschen nicht mehr genügend musizieren, es schlechte Folgen hat. Warum dies so ist, weiß man allerdings bis heute nicht genau. „Aber wahrscheinlich hat das Musizieren etwas mit dem allgemeinen Gesundheitszustand zu tun. Also: Ich denke, dass es unwahrscheinlich ist, dass die Menschen irgendwann nicht mehr musizieren, es ist etwas zu Natürliches darin: Der Mensch muss musizieren! Wenn nicht, wird er krank oder stirbt.“ Heißt das, dass wir uns zurückentwickeln müssen, um wieder eine hohe Kunstform zu entwickeln? „Wir sind erst am Anfang, wir verstehen noch viel zu wenig über Musik. Es gibt Wissenschaftler, die glauben, dass Musik eine Form des Lebens ist. Aber man braucht nicht alles zu verstehen. Wenn man Künstler ist, braucht man Kunst nicht zu verstehen, man muss sie nur machen. Und es können andere versuchen, dies zu verstehen. Man soll nicht alles versuchen zu verstehen, ansonsten macht man den Fehler von Faust ...“

Heute sieht er eine Renaissance von Klaviermusik: „Vor zehn Jahren noch schien es so, als ob das Klavier ein sterbendes Instrument ist, kaum jemand schrieb für Klavier und es schien, als ob das Klavier wie das Clavichord eine Stelle im Museum bekommen würde. Aber es ist das Gegenteil. Es gibt viele junge Pianisten, die Neue Musik spielen, sehr gut sogar, in aller Welt. Und es gibt viele junge Komponisten, die wieder für das Klavier schreiben, das war wirklich vollkommen unerwartet. Ich halte zum Beispiel Michael Finnessey für ein solches Beispiel.“ Hoffnungsvolle Worte eines amerikanischen Komponisten-Pianisten, der heute in Belgien lebt und viele Erfahrungen und Erlebnisse vorzuweisen hat. Pianisten wie Ursula Oppens und Jerome Lowenthal waren immens wichtig für Frederic Rzewski, denn gerade Ursula Oppens hat etliche Werke in den USA uraufgeführt, zum Teil extra für sie komponierte Werke. „Ja, Ursula ist immer noch immens wichtig für mich und wir werden demnächst wieder Konzerte gemeinsam für zwei Klaviere spielen.“ Frederic Rzewski ist heute vielleicht, mit seinen 70 Jahren und einer ungebrochenen Energie, die auch seine Konzerte kennzeichnet, ein Vertreter einer Generation, von denen es nur noch wenige gibt: ein Komponist, der seine Werke selbst aufführt.

 

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